Was für ein Debüt! US-Schauspielerin Kristen Stewart, bekannt geworden durch die „Twilight“-Blockbuster nach Stephenie Meyer, emanzipiert sich mit ihrer ersten Regiearbeit endgültig vom Konsenskino Hollywoods. Die Charakterstudie „The Chronology of Water“, eine Verfilmung der gleichnamigen Memoiren Lidia Yuknavitchs, bewegt sich mit ihrer bruchstückhaften Erzählweise, ihrer eigenwilligen Bildsprache und ihrer schonungslos ergründeten Missbrauchsthematik deutlich abseits des Mainstreams. Ein furioser, manchmal auch anstrengender Trip, der einen unter Garantie kräftig durchschüttelt.
Über den Film
Originaltitel
The Chronology of Water
Deutscher Titel
The Chronology of Water
Produktionsland
USA,FRA,LVA
Filmdauer
128 min
Produktionsjahr
2025
Regisseur
Stewart, Kristen
Verleih
eksystent Filmverleih
Starttermin
01.01.1972
Sich nicht vereinnahmen und auf bestimmte Rollen festlegen zu lassen, das hat Kristen Stewart nach ihrem Erfolg mit der „Twilight“-Saga geschafft. Dass die US-Darstellerin mehr sein wollte als eine weitere rund um den Globus verehrte Blockbuster-Ikone, verdeutlichten schon ihre ersten Ausflüge ins europäische Autorenkino mit Olivier Assayas‘ Werken „Die Wolken von Sils Maria“ (2014) und „Personal Shopper“ (2016). Anspruchsvolle Rollen und eher unkonventionelle Projekte sprachen Stewart auch in der Folgezeit an. Mit Pablo Larraín drehte sie das Biopic „Spencer“ (2021) über Prinzessin Diana. Unter der Regie David Cronenbergs entstand der Scifi-Bodyhorror-Streifen „Crimes of the Future“ (2022). Und von Rose Glass ließ sich das frühere Teenageridol in der queeren, feministischen Thriller-Romanze „Love Lies Bleeding“ (2024) inszenieren.
„The Chronology of Water“, ihr Debüt als Filmemacherin, wirkt wie der logische nächste Schritt in der Entwicklung einer Frau, die mehr und mehr ihre eigene Stimme findet – was Stewart dann auch sehr stark mit der Geschichte ihrer Protagonistin verbindet. Die Charakterstudie basiert auf den gleichnamigen Memoiren der früheren Schwimmerin und heutigen Schriftstellerin Lidia Yuknavitch, die in jungen Jahren von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde und irgendwann den Drogen und dem Alkohol verfiel. Harter Stoff, den die Neuregisseurin ohne Netz und doppelten Boden in ihr Erstlingswerk überführt.
Auch wenn sich Stewart in den letzten Jahren im Mainstreamkino rarmachte, besitzt ihr Name noch immer eine enorme Strahlkraft. Dennoch scheint es nicht leicht gewesen zu sein, ihren ersten eigenen Film auf die Beine zu stellen. Das lassen zumindest die vielen im Vorspann genannten Produktionsfirmen und damit die breitgefächerte Finanzierung vermuten. Kein Wunder! Denn „The Chronology of Water“ schildert auf radikale, experimentelle Weise eine von Gewalt, Zweifeln und Selbstzerstörung geprägte Lebensgeschichte.
Stewarts kompromissloser Ansatz zeigt sich schon zu Anfang des in mehrere Kapitel unterteilten Dramas. Als Zuschauer sucht man irgendwie Halt, bemüht sich, dem Gezeigten Sinn zu geben. Aber zunächst stürzt auf uns ein Schwall an Bildern, Tönen, Wort- und Satzfetzen ein. Das grobkörnige 16mm-Analogmaterial verleiht dem Ganzen sofort einen betont subjektiven Anstrich. Was sich aus den teils in extremen Nahaufnahmen gefilmten Fragmenten mit der Zeit herauslesen lässt: In ihrem Elternhaus durchlebt die kleine Lidia (Anna Wittowsky) die Hölle. Während ihre Mutter (Susannah Flood) konsequent wegschaut, hat ihr sexuell übergriffiger Vater (mit furchteinflößender Präsenz: Michael Epp) ein auf absolute Kontrolle ausgerichtetes Terrorregime etabliert, vor dem Lidias ältere Schwester Claudia (als Erwachsene von Thora Birch verkörpert) Reißaus nimmt.
Auch der Protagonistin (im Teenager- und im Erwachsenenalter von Imogen Poots gespielt) gelingt dank eines Schwimmstipendiums irgendwann der Absprung. Drogen- und Alkoholmissbrauch, Beziehungsfrust und eine Fehlgeburt werfen die junge Frau allerdings immer wieder aus der Bahn. Ihre Bestimmung und eine Möglichkeit, sich auszudrücken, findet sie erst in der Literatur. Doch der Weg zur Heilung ist lang, da die Schatten der Vergangenheit nicht so einfach verschwinden wollen.
„The Chronology of Water“ erzählt den Werdegang nicht streng chronologisch, sondern sprunghaft und assoziativ. Ganz ähnlich eben, wie die menschliche Erinnerung funktioniert. Geräusche, Personen oder bestimmte Gegenstände lösen einen Impuls aus, der frühere Eindrücke wieder hochschwemmt und damalige Gefühle reproduziert. Ständig erklingt über den Bildern die Stimme der Hauptfigur, die mal ausführlicher, mal kryptischer Dinge kommentiert. Am schwierigsten zu fassen ist sicherlich der Einstieg. Im weiteren Verlauf gibt es immerhin einige Passagen, in denen die Zersplitterung etwas nachlässt.
So herausfordernd das aus vielen größeren und kleineren Bruchstücken bestehende Geschehen auch sein mag – auf Kurs gehalten wird der Film von Imogen Poots, die sich mit einer fast schon furchteinflößenden Unerschrockenheit in ihre Rolle wirft. Ihr Gesicht häufig in Großaufnahme eingefangen, gibt sich die Britin ganz der Kamera hin und spielt sich im wahrsten Sinne des Wortes die Seele aus dem Leib. Lust, Ausgelassenheit, Ekel, Schmerz, Verzweiflung – jede Emotion lebt die Hauptdarstellerin mit voller Intensität. Nach diesem Dreh kann sie eigentlich nur völlig ausgepumpt gewesen sein! Was mimische Qualität bewirken kann, zeigt auch das Beispiel Jim Belushis, der in seinen wenigen Szenen als (real existierender) Schriftsteller Ken Kesey (unter anderem Autor von „Einer flog über das Kuckucksnest“) eine raumgreifende, in Erinnerung bleibende Figur erschafft. Wer sich mit Kristen Stewarts Kunstanspruch, ihrem unangepassten Stil schwertut, kann sich wenigstens von diesen beiden Performances mitreißen lassen.
Christopher Diekhaus