The Ordinaries

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Der deutsche Film scheut das Risiko, setzt lieber auf gefällige Stoffe, die von Sendern und Förderern problemlos durchgewunken werden? Wir können auf anders! Das innovative Debüt von Sophie Linnenbaum blickt auf eine unbekannte Welt der Filmfiguren, in der sich Haupt- und Nebenfiguren erbittert bekriegen. Die junge Heldin Paula versucht mit großer Leidenschaft, die Schauspielprüfung zu bestehen, um in die Oberklasse aufzusteigen, so wie der verschollene Papa. Dann entdeckt sie ein düsteres Geheimnis des vermeintlich heldenhaften Vaters. Das vordergründige Fantasie-Spektakel (inklusive Gastauftritten von Lassie und Forrest Gump!) entpuppt sich immer mehr als nachdenkliche Politsatire über Macht, Ungerechtigkeit und Widerstand. Der Mut zum Risiko wurde belohnt: Neun Auszeichnungen zieren das Filmplakat. Darunter zwei Förderpreise vom Filmfest München, der New Faces Award sowie, gleichsam als Krönung, der Publikumspreis bei der Filmkunstmesse Leipzig.

Webseite: https://port-prince.de/projekt/the-ordinaries/

D 2022
Regie: Sophie Linnenbaum
Darsteller: Fine Sendel, Jule Böwe, Sira-Anna Faal, Noah Tinwa, Henning Peker, Denise M’Baye, Pasquale Aleardi
Filmlänge: 120 Minuten
Verleih: notsold & Port au Prince Pictures
Kinostart: 30.März 2023

FILMKRITIK:

Mit Stolz berichtet die Ich-Erzählerin zum Auftakt von ihrer Mutter, die als Nebendarstellerin in Filmen auftritt. Selbst unter Hunderten von Komparsen findet Paula die Mama in Archivbildern sofort heraus. Noch stolzer ist die junge Heldin auf den Vater. Der war immerhin eine Hauptfigur und er starb einen heldenhaften Tod. In seine Fußstapfen möchte die Schauspielschülerin treten. Klassenbeste ist sie bereits, sie kann panisch Schreien und beherrscht die Zeitlupe. Nur mit dem Erzeugen emotionaler Musik hapert es noch etwas. Um die bevorstehende Prüfung nicht zu verpatzen, will sie zur Inspiration einige Flashbacks ihres Vaters anschauen. Doch im Archiv fehlt von dem vermeintlichen Helden jede Spur. Alles nur ein Versehen, glaubt die Tochter. Papa wurde schließlich von den Outtakes ermordet. Oder etwa doch nicht?

Die Mutter kann die Unstimmigkeiten nicht aufklären. Sie erzählt nur immer wieder, welch ein toller Mensch ihr Mann gewesen sei. Ihre Aussagen wiederholen sich ständig und klingen auffällig identisch. Des Rätsels Lösung: Als Nebendarstellerin steht ihr lediglich eine begrenzte Zahl an Dialogen zur Verfügung, die spricht sie dann in Endlosschleife. Dramaturgischen Pirouetten wie diese gibt es reichlich in diesem Panoptikum aus Metaebenen, Metaphern und doppelten Böden. Auf die bewusst verspielte, bisweilen verrückte Erzählweise muss man sich einfach einlassen. Und sich mit der skurrilen Story über Außenseiter der Gesellschaft treiben lassen.

Die obskure Odyssee der optimistischen Heldin durch die ungerechte Orwell-Welt führt zu monotonen Treppen und finsteren Spelunken. Gerät Paula in die Nähe der Hauptdarsteller, etwa beim Besuch ihrer besten Freundin, dominieren leuchtenden Farben das Bild der hell erleuchteten Villen. Im Kontrast dazu schimmern Sepia- oder Pastelltöne in der monotonen Welt der Nebenakteuren, derweil es bei den diskriminierten Outtakes, ganz unten in der Hierarchie, fast farblos oder schwarzweiß zugeht.

Bisweilen gerät die Sache vielleicht eine Spur zu verkopft, zu verquast und überlang. Was dem Vergnügen jedoch keinen großen Abbruch tut: Das überbordende Füllhorn fantasievoller Ideen ist einfach famos, die visuelle Umsetzung gerät großartig. Die 22-jährige Hauptdarstellerin Fine Sendel darf als echte Entdeckung gelten. Mit emotionalem Volldampf geht es in Richtung Finale. Da darf eine rührende Liebeserklärung ebenso wenig fehlen wie jener gemeinsame Aufstand gegen die Unterdrückung: Hoch die Solidarität! Und ein Hoch auf diesen wagemutigen Abschlussfilm eines vielversprechenden Filmtalents.

 

Dieter Oßwald