Was passiert mit minderjährigen Geflüchteten in Belgien und anderen europäischen Ländern? Das will niemand so genau wissen. Vor allem nicht, wenn Menschen- und Drogenhändler die Not von ungeschützt in die Illegalität Getriebenen ausnutzen, wenn Sklaverei, sexueller Missbrauch und sogar Mord ins Spiel kommen. Fast alle machen die Augen zu, aber nicht die Gebrüder Dardenne. Die Altmeister des Sozialrealismus zeigen die Schönheit einer geschwisterähnlichen Bindung, sie lassen die innere Stärke und die Widerstandskraft von zwei gewitzten Überlebenskämpfern leuchten. Und sie zwingen das Publikum, genau hinzusehen.
Tori et Lokita
Belgien, Frankreich 2022
Regie und Buch: Luc und Jean-Pierre Dardenne
Darsteller: Pablo Schils, Joely Mbundu, Marc Zinga, Nadège Ouedraogo, Charlotte De Bruyne
Länge: 88 Minuten
Verleih: Cinejoy
Kinostart: 26.10.23
FILMKRITIK:
Großaufnahme von Lokita (Joely Mbundu): Die 16-jährige aus Benin mit den kurzen, jungenhaften Haaren hat Angst. Trauer füllt ihre Augen, ganz leicht zuckt ihre Nase. Ansonsten blickt sie reglos an der Kamera vorbei, in die Enge gedrängt wie ein gefangenes Tier. Zu hören ist die Stimme einer Frau. Sie schießt Fragen ab wie Pfeile, knapp und messerscharf, als wäre dies ein Kreuzverhör vor Gericht. Aber Lokita sitzt nicht vor einem Ankläger. Sondern in einer Behörde, die berechtigte Anliegen sachlich prüfen soll. Das Mädchen braucht eine Aufenthaltsgenehmigung in Belgien. Dafür muss sie lügen, anders als Tori (Pablo Schils), ihr elfjähriger Kompagnon, den sie bei der Flucht übers Meer kennen gelernt und ins Herz geschlossen hat. Tori darf bleiben, weil er unter 14 ist. Wäre Lokita Toris ältere Schwester, bekäme sie ebenfalls einen Schutz vor Abschiebung, deshalb sagt sie die Unwahrheit. Die Frau in der Behörde scheint solche Strategien zu kennen. Sie bohrt nach, bleibt unerbittlich, verlangt schließlich einen DNA-Test. Als Lokita wieder draußen ist, bricht sie weinend zusammen.
Von der Frau in der Behörde ist nur die Stimme zu hören. Mit gutem Grund verweigern die Regisseure Luc und Jean-Pierre Dardenne, die auch gemeinsam das Drehbuch geschrieben haben, den Blick auf die Sachbearbeiterin. Ihnen geht es nicht um individuelles Fehlverhalten, nicht um möglicherweise sadistische Neigungen oder auch nur um verborgene Vorurteile. Es geht um uns alle hier in Europa, die wir wegschauen vor dem unvorstellbaren Leid, das minderjährigen Geflüchteten zugefügt wird, bis hin zu Sklaverei, sexuellem Missbrauch oder gar Mord. Die Brüder Dardenne beschäftigten sich schon länger mit dem Thema, auch in ihrem vorletzten Film „Das unbekannte Mädchen“ (2016) spielte es eine Rolle. Den Anstoß zu „Tori und Lokita“, so erzählen sie es in einem Interview, gab dann ein Artikel darüber, wie viele Jungen und Mädchen spurlos aus Notunterkünften und Wohngruppen verschwinden. Es sollen geschätzt 15 bis 20 Prozent der Aufgenommenen sein.
Bevor Lokita vollends in die Hände von Drogen- und Menschenhändlern gerät, lernen wir sie und Tori in knappen, berührenden Alltagssituationen kennen. Vor dem Schlafengehen albern sie miteinander herum wie echte Geschwister, kuscheln sich ins Bett, helfen einander mit einem Lied aus der Heimat in den Schlaf. Ihre Sangeskünste tragen sie auch in der Pizzeria vor, in der sie für einen Hungerlohn arbeiten – ein ergreifender Moment. Ohne dass der Film es aussprechen muss, machen die Bilder klar, wie innig diese Freundschaft ist, die die beiden alle Härten der Flucht hat überstehen lassen. Was auch immer die feindliche Umwelt den „Geschwistern“ antut – solange sie einander haben, bleiben sie bewundernswert stark im Kampf um die nackte Existenz. Die enge Bindung ist wichtiger als alles, was man sonst zum Überleben braucht. Darauf zu verzichten, wird den beiden zum Verhängnis, als sich Lokita darauf einlässt, als Gegenleistung für einen gefälschten Pass für drei Monate eine geheime Cannabis-Plantage zu pflegen, wie in einem Gefängnis, ohne Ausgang, eingesperrt Tag und Nacht, selbst ohne Handy-Empfang.
Als der jüngste Film der Altmeister im Wettbewerb von Cannes 2022 Premiere hatte, warfen ihm Teile der Kritik vor, er trage zum Werk der Brüder nichts Neues bei. Daran ist richtig, dass sich die inzwischen 71- und 74-Jährigen nicht neu erfinden. Aber der Vorwurf übersieht, wie brillant die Filmemacher inzwischen das Genre des Sozialrealismus beherrschen, wie konzentriert, ökonomisch und straff ihr zwölfter Spielfilm die Handlung vorantreibt. Und vor allem, wie sie ihre cineastische Kunstfertigkeit dazu nutzen, das Publikum teilhaben zu lassen an dem Schicksal der beiden Geflüchteten. Dem Sog dieser Bilder kann man sich nicht entziehen, Wegschauen wird ersetzt durch Empathie. Sich der Wahrheit stellen zu müssen, mag nicht immer angenehm ein. Aber es wird zumindest gelindert durch die intensive Darstellung der beiden Laienschauspieler.
Peter Gutting