Über das Meer

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Die erstaunliche Geschichte einer gelungenen Republikflucht beschreibt Arend Agthe in seinem Dokumentarfilm „Über das Meer.“ Diesen Weg, genauer gesagt den Weg von der DDR-Nordküste über die Lübecker Bucht, nahm 1974 Erhard Schelter, dessen Geschichte anhand von Interviews, einigen Archivbildern und nach inszenierten Szenen erzählt wird.

Webseite: www.basisfilm.de

Deutschland 2011 - Dokumentation
Regie, Buch: Arend Agthe
Länge: 75 Minuten
Verleih: Basis-Film Verleih
Kinostart: 16. Januar 2014

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Vielleicht war es der Erfolg von Christian Petzolds „Barbara“, in dem eine Flucht über das Meer geplant wird, der Arend Agthes Dokumentarfilm „Über das Meer“ einige Jahre nach Entstehung nun doch noch zu einem Kinostart verhilft. Dabei ist die Geschichte von Erhard Schelter, dem in der Nacht vom 21. auf den 22. September 1974 die Flucht aus der DDR gelang, auch für sich genommen spannend genug, ist Schelter ein lebendiger Erzähler, der sein Schicksal unprätentiös wiedergibt.

Dementsprechend stark ist „Über das Meer“ auf Schelter zugeschnitten, der in langen Interviewpassagen von seinem Leben in der DDR erzählt, vom Traum, auf See zu fahren, der vom System blockiert wurde: Zu viele Westverwandte hatte Schelter, was er allerdings erst viele Jahre später aus seiner Stasi-Akte erfuhr. Als der Unmut über das System zu groß wurde, die Versuche, ihn als IM anzuwerben und zum Verrat an Freunden zu nötigen, unerträglich wurden, fiel der Entschluss zur Flucht.

Und der sollte übers Wasser erfolgen, per Durchschwimmen der Lübecker Bucht, die ganz im Westen der DDR-Küste kaum 20 Kilometer von der Bundesrepublik entfernt lag. Selbst ein Leuchtturm war des nachts zu sehen und symbolisierte quasi das Licht der Freiheit, die so nah und doch so fern war. Doch allein ans Meer zu kommen war in der DDR nicht ganz einfach: Jede Bootsfahrt, selbst jeder Tauchgang musste genehmigt werden.
Durch Zufall traf Schelter einen Gleichgesinnten, mit dem zusammen er die Flucht wagte. Diese Momente werden durch die in einem Doku-Drama beliebten Nachinszenierungen gezeigt, was ein wenig unnötig erscheint. So packend erzählt Schelter, dass hier Vertrauen in die Vorstellungskraft des Zuschauers eine mögliche Alternative gewesen wäre.

So pragmatisch Schelter über sein Leben in der DDR erzählt, so schwierig scheint sein Verhalten für seine Frau und den kleinen Sohn gewesen zu sein, die er zurückließ, und die Jahre später auch ausreisen durften. Gerade die Aussagen des inzwischen Erwachsenen Sohns, der von Hänseleien und Vorwürfen wegen der Flucht seines Vaters berichtet, deuten eine emotionale, eine tragische Dimension der Geschichte an, die jedoch nur am Rand gestreift wird.

Auch eine mögliche größere Perspektive schneidet Arend Agthe nur ganz am Ende an, wenn er eine Forscherin Zahlen über die Fluchtversuche per Wasser referieren lässt. Ob Schelters Schicksal emblematisch für viele war oder eher Ausnahme, ist eine Frage, die offen bleibt. Das ist etwas schade, denn eine deutliche Einordnung der Geschichte Schelters in den größeren Rahmen der Fluchtversuche aus der DDR hätte aus dieser spannenden individuellen Geschichte noch mehr herausholen können.

Michael Meyns