Vergiss mein nicht

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Die immer älter werdende Gesellschaft stellt nicht nur Gesundheits- und Rentensysteme vor Herausforderungen. Auch die Zahl von Alzheimer- und anderen Demenzerkrankungen nimmt zu. Längst wird das Thema breit diskutiert und in Filmen wie „Mein Vater“ oder „An ihrer Seite“ dramatisiert. David Sieveking wagt die ganz direkte Konfrontation: In seiner Doku zeigt er die Erkrankung seiner eigenen Mutter. Dennoch ist „Vergiss mein nicht“ ein eher fröhlicher Film geworden, der die Krankheit nicht verharmlost, dem Vergessen aber die Permanenz des Gefühls entgegensetzt. Ausgezeichnet mit dem hessischen Filmpreis und als bester Film der Sektion Semaine de la critique beim Festival in Locarno.

Webseite: www.farbfilm-verleih.de

Deutschland 2012
Regie, Buch: David Sieveking
Kamera: Adrian Stähli
Länge: 88 Minuten
Verleih: farbfilm verleih
Kinostart: 31. Januar 2013

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

„Ich habe mir Zeit genommen, um zu sehen, ob ich meinen Eltern helfen kann“. David Sieveking, mehrfach für seinen Dokumentarfilm „David wants to fly“ ausgezeichnet, kehrt in sein Elternhaus zurück. Aber das Zuhause, das er kannte, gibt es nicht mehr. Seine Mutter Gretel leidet seit Jahren an Alzheimer und erkennt mittlerweile selbst enge Angehörige nicht mehr. Vater Malte, ein ehemaliger Mathematik-Professor, ist mit ihrer Pflege überfordert. Als Malte in den Urlaub in die Schweiz fährt, muss David erkennen, dass es viel schwerer ist, Gretel zu Aktivitäten zu überreden, als er sich vorgestellt hat. Ein Besuch bei ihrer Schwester weckt allerdings ihre Lebensgeister. Für David wird die Fahrt, die auch zu Malte in die Schweiz führt, zu einer Reise in die Vergangenheit. Er entdeckt in Gretel eine Person, die in ihrem Leben mehr war als seine Mutter.

Schon in seinem preisgekrönten Debüt „David wants to fly“ machte sich Sieveking selbst zur Hauptfigur seines Films und rückte einigen Protagonisten der esoterischen Szene mit seinem naivem Charme näher auf den Leib, als ihnen lieb war. Aber kann diese Vorgehensweise auch funktionieren, wenn es um ein zutiefst persönliches Thema wie der Erkrankung der eigenen Mutter geht? Tatsächlich wirkt Sievekings Film anfangs stark inszeniert, wenn er bei seinen Eltern aufkreuzt, ohne die Produktionssituation zu thematisieren. Schließlich stehen da auch ein Ton- und ein Kameramann in der Tür – unterwirft Sieveking hier die Lebenssituation seiner Eltern nicht seinen eigenen Interessen? Dieser Eindruck lässt jedoch schnell nach, denn an der Ehrlichkeit seiner Gefühle und Bemühungen besteht nach kürzester Zeit kein Zweifel mehr. Zudem entwickelt „Vergiss mein nicht“ einen unerwarteten Erzählton. Tragik ist der Geschichte von Grund auf eingeschrieben, und in stillen Beobachtungen zeigt er durchaus Gretels Zerfall. Gleichzeitig aber wird sie immer mehr von der leidenden zur handelnden Person. Der Film zeigt: die tückische Demenzerkrankung nimmt Gretel zwar ihre Persönlichkeit – aber darunter wird eine andere Person sichtbar, die näher an ihren Emotionen ist und diese auf ganz direkte Weise ausdrückt.

So ist Davis Sievekings Film weit mehr als eine Krankengeschichte. Der Regisseur lernt seine Mutter durch die Dreharbeiten ganz neu kennen und schätzen. Er erfährt von ihren politischen Aktivitäten in den 70er-Jahren, von den Eheproblemen seiner Eltern, davon, wie sehr Gretel unter Maltes Seitensprüngen litt und die Familie dennoch zusammenhielt – obwohl sie sich in ihrer Rolle als Hausfrau unterfordert fühlte. Insofern ist „Vergiss mein nicht“ auch das Porträt einer starken Frau und der Generation der Achtundsechziger, die mittlerweile im Seniorenalter angekommen ist. Am schönsten ist der Film da, wo er zeigt, wie Gretels Erkrankung die Familie enger zusammenrücken und sich Gefühlen öffnen lässt, die vorher unterdrückt waren.

Oliver Kaever

Der Film eines Sohnes über seine Mutter, ein Film über Alzheimer. Margarethe Sievekind heißt diese Mutter, „Gretel“ wird sie von allen genannt, von ihrem Mann Malte, von den drei Kindern, darunter David, der Regisseur dieses Films, und auch von den Freunden.

73 ist sie geworden. Sie war eine schöne junge Frau. Nach dem Studium ging sie mit Malte, einem Mathematiker, nach Zürich, wo dieser an der Universität arbeitete. Sie betätigte sich sofort politisch, und zwar ganz links. Als Deutsche eine „Berufsrevolutionärin“ in der Schweiz, das war ungewöhnlich. Sie wurde denn auch vom Staatsschutz ständig observiert. (David konnte während seiner Arbeit an „Vergiss mein nicht“ die entsprechenden Dokumente einsehen.) Letztlich wurde schon deshalb David Sieveking die Schweizer Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert.

Dann kam im Alter die Krankheit, die bereits Gretels Mutter gehabt hatte. Davids Mutter (sie starb im Februar 2012) wusste nicht mehr, wer sie war, wo sie war, wer ihr Mann, wer ihre Tochter, wer ihr Sohn war.

Und trotz allem hatte sie lichte Momente, konnte sich anhand alter Fotos an früher erinnern, wurde zeitweise freier und konnte beschäftigt werden, war zu Reisen bereit, trat humorvoll auf – weil oft ihre Verhaltensweisen und Bemerkungen, die völlig aus der Luft gegriffen waren (eine Zeitlang hielt sie beispielsweise ihren Sohn für ihren Mann), eine komische Wirkung zeitigten. Das war eine völlig andere Frau als die von früher, die als intellektuell und eher distanziert galt.

Rührend kümmert sich David um Gretel, als der Vater dringend einen Erholungsurlaub braucht. Er lernt seine Mutter neu kennen und lieben.

Jahrelang liebevoll ist auch Malte zu seiner Frau – obwohl die Ehe nicht vorbildlich war, beide als gestandene 68er mit gegenseitiger Toleranz auch andere Partner hatten. Einmal wurde versucht, Gretel in einem Heim unterzubringen, doch Malte holte sie bald wieder nach Hause.

Es ist ein menschliches, realistisches, des Nachdenkens wertes Dokument geworden. Eines, das zeigt, wie man mit kranken Menschen umgeht. Eines, das, wenn die Bevölkerung immer älter wird, als Beispiel gelten kann.

Eines, das noch dazu filmisch sehr gut und abwechslungsreich gestaltet ist und das deshalb auch bereits Preise einheimsen konnte.

Das Sieveking-Beispiel ist natürlich der Idealfall, der leider bei weitem nicht überall anzutreffen ist.

Thomas Engel