Vergiss Meyn nicht

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Ein junger Dokumentarfilmer begleitet 2018 die Besetzung des Hambacher Forstes. Er spricht mit den Aktivistinnen und Aktivisten, die hoch über dem Boden in den Baumgipfeln leben, zeigt ihren Alltag zwischen Protest, Angst und internen Konflikten. Und er kommt ums Leben: Steffen Meyn stürzt unter ungeklärten Umständen von einer Verbindungsbrücke in den Tod.
Anhand seines Filmmaterials haben Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff eine teils ergreifende, aber immer interessante Dokumentation erstellt, die vom Kampf für die Realisierung von politischen Zielen handelt, aber auch von persönlichen Zweifeln.

Webseite: https://www.wfilm.de/vergiss-meyn-nicht/inhalt/

Deutschland 2023
Drehbuch und Regie: Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl, Jens Mühlhoff
Kamera: Carina Neubohn, Steffen Meyn
Musik: Antonio de Luca, Caroline Kox

Länge: 102 Minuten
Verleih: W-film
Kinostart: 21. September 2023

FILMKRITIK:

Der erste Eindruck: Ein Wald, eigentlich ganz schön: lichte Baumwipfel, sommerliche Stimmung. Aber da ist was passiert, und die Kamera läuft weiter. Und so war es tatsächlich: Nach Steffen Meyns Sturz blieb sein geliebtes Spielzeug, eine 360-Grad-Kamera, die er auf einem Fahrradhelm trug, intakt und lieferte verlässlich Bilder – von herbeieilenden Polizeikräften – und Töne in Gestalt von Stimmen der Baumbesetzer. Von unten sieht man die Baumhäuser, die Brücken und Stege dazwischen.

Der Film beginnt und endet mit diesen Bildern, dazu eine polyphone, atonale Musik, die mit voller Absicht an den Nerven kratzt. Es geht um Steffen Meyn, aber diese Dokumentation ist keine Biographie. Sie passt irgendwie in keine Schublade und doch gleichzeitig in jede. Weder Reportage noch Agitprop, weder Direct Cinema noch Investigativfilm, aber dennoch trägt er Elemente von allen diesen Genres in sich. Am ehesten könnte man diesen Film vielleicht als Reflexion oder sogar als Requiem bezeichnen. Zumindest ist er ungewöhnlich und das liegt auch am Sujet. Steffen Meyn hinterließ eine Unmasse an Material, aus dem er, der Filmstudent, einen Dokumentarfilm über die Besetzung des Hambacher Forsts drehen wollte. Fröhliche, unbeschwerte Bilder zeigen ihn mit seiner nigelnagelneuen 360°-Kamera, die er einen großen Teil des Films auf dem Kopf tragen wird, vermutlich um auf den Bäumen die Hände freizuhaben, aber auch, weil er sie einfach gut findet – ein neues Gadget, das er ausprobiert und mit dem er sich schnell anfreundet. In Interviewaufnahmen erinnern sich die ehemaligen Besetzerinnen und Besetzer an ihn. Wie er zuerst aufgetaucht ist, an seinen Spruch: „The camera is running NOW!“, an seine Offenheit, seine Neugier und seine Bereitschaft, sich auf jede einzelne Geschichte einzulassen. In Steffen Heyns Aufnahmen sind dieselben Personen häufig vermummt, und ihre Beweggründe für die Teilnahme an der Besetzung sind durchaus unterschiedlich. Steffen Heyn begegnet ihnen mit niemals erlahmender Freundlichkeit, aber auch kritisch – er macht die internen Konflikte zwischen den Baumbesetzern zum Thema, aber auch die Frage der Gewaltbereitschaft. Die kompromisslose Einstellung einiger Baumbesetzer macht ihm dabei sichtbar zu schaffen. Seine Bilder zeigen die Ruhe über den Baumwipfeln ebenso wie die Aufregung, die beim Eindringen von Polizeikräften in den Wald um sich greift – die unterschwellige und direkte Gewalt in Worten und Taten.

Aus Steffen Meyns nachgelassenem Material und aus eigenen Bildern haben Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff einen Film arrangiert, der ganz eindeutig und absichtlich einseitig die Klimaaktivistinnen und -aktivisten begleitet und sich letztlich intensiv mit der Frage auseinandersetzt, ob und wofür es sich lohnt, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen – große Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Es sind viele kluge Gedanken in diesem Film, ausgesprochen von meist jungen, meist sehr sensiblen Menschen, die auf das Jahr 2018 zurückblickend ihre eigenen Rollen reflektieren. Was hat die Zeit der Besetzung mit ihnen gemacht? Wie wirken die Geschehnisse von 2018 nach? Was nehmen sie mit aus der Begegnung mit Gleichgesinnten und mit Gegnern?

Die Besetzung des Hambacher Forstes ist mittlerweile beendet – die Probleme sind geblieben, auch wenn der Wald vielleicht erhalten bleibt.

 

Gaby Sikorski