Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?

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„Boy meets Girl“ soll eine Filmidee gewesen sein, die sich Regisseur Billy Wilder eines Nachts aufschrieb, weil sie ihm im Traum so genial vorkam. Am Morgen danach las sie sich schon nicht mehr so prickelnd. Dennoch: In wie vielen Varianten die Filmgeschichte jenes Grundmuster durchexerziert hat, ist schon beeindruckend. Kaum zu glauben, dass einem dazu noch etwas Neues einfallen sollte. Wie man sämtliche Regeln der Romanze auf den Kopf stellt und dennoch etwas Zauberhaftes schafft, zeigt der Georgier Alexandre Koberidze in seinem zweiten Spielfilm. Vielleicht deshalb, weil er das Wunder der Liebe noch mit allerhand anderem Magischen anreichert.

Website: https://grandfilm.de/was-sehen-wir-wenn-wir-zum-himmel-schauen/

Deutschland/Georgien 2021
Buch und Regie: Alexandre Koberidze
Darsteller: Giorgi Bochorishvili, Ani Karseladze, Oliko Barbakadze, Giorgi Ambroladze, Vakhtang Fanchulidze
Länge: 150 Minuten
Verleih: Grandfilm
Kinostart: 07.04.2022

FILMKRITIK:

Es passiert vor einer Schule. Ein Mann und eine Frau prallen zusammen, offensichtlich aus Unachtsamkeit. Ein Buch fällt dabei zu Boden, der Mann hebt es auf. Wenig später der gleiche Vorfall, nur mit vertauschten Richtungen. Das sehen wir, weil die Kamera Beine und Füße zeigt, vom Knie abwärts, sonst nichts. Dann wird es Nacht, wieder begegnen sich die Unbekannten. Noch immer erblicken wir ihre Gesichter nicht, hören lediglich ihre Stimmen. Die verabreden sich für den nächsten Abend. Was da im Unsichtbaren geschah, offenbart sich erst, wenn Lisa (Ani Karseladze) und Giorgi (Giorgi Bochorishvili) erstmals ins Bild treten, jeder für sich allein. Beide schweben auf Wolke sieben. Ob sie sich wiedersehen werden oder ob sie das Schicksal daran hindert, ist sicher keine genreuntypische Frage. Wohl aber die Art der Hürden, auf die sie treffen.

Jedenfalls kann die Kamera (Faraz Fesharaki), die bisher nah bei den Gesichtern war, nun die Perspektive weiten und anderes in den Blick nehmen. Etwa den reißenden Fluss, der durch die georgische Stadt Kutaissi rauscht, ihre Brücken, ihre Cafés, ihre Hunde und vor allem ihre Kinder. Es ist Sommer und Fußballweltmeisterschaft. Da scheint es kein Wunder, wenn Magisches und Alltag wie selbstverständlich ineinanderfließen. Man muss gar nicht die „Hand Gottes“ zitieren. Es genügt die Beobachtung, dass auch Hunde zum Public Viewing gehen. Wenn dann der Erzähler im Off einer Hündin unterstellt, sie habe sich dort mit einem Artgenossen verabredet, diesen aber genauso verfehlt wie es den beiden menschlichen Protagonisten ergeht, dann entsteht ein Tonfall, der mühelos zwischen Realismus und Magie schwebt. Wie schleicht sich das Unsichtbare zwischen die Bilder, etwa die Liebe, die doch mehr zu sein scheint als körperliche Anziehung? Das ist das große Thema, das Alexandre Koberidze sichtlich umtreibt. Er umspielt es mit großer Gelassenheit, verschmitztem Humor und sommersatter Lebensbejahung.

Es würde in die Irre führen, wenn man die guten Geister und die bösen Kräfte, die jene Stadt bevölkern, als Metaphern deuten wollte – im Versuch, die vom Film aufgegeben Rätsel zu entziffern. Statt auf überzogenen Intellektualismus setzt „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen“ auf die Dinge des Lebens, auf kleine Episoden und liebevoll betrachtete Momente, in denen die Sehnsucht des georgischen Regisseurs, der seit einigen Jahren in Berlin lebt, nach seiner Heimat mitschwingt. Es seien harte Zeiten, behauptet der Off-Erzähler auf der Tonspur. Aber die Bilder widerlegen ihn ebenso wie die Musik, die Koberidzes Bruder Giorgi komponiert hat. Oft setzt sie emotionale Kontrapunkte. Etwa wenn die unglückliche Lisa aus Geldnot einen neuen Job suchen muss: Perlende Klavierläufe nehmen eine Lebensfreude vorweg, von der die Filmfigur noch nichts ahnt. Lange scheint es sogar, als könnte vor allem eine Musiklehrerin den Bann der Liebenden brechen. Aber dann gibt es auch noch die Magie des Kinos, die da ein Wörtchen mitredet. Denn auch ein Liebesfilm der ganz anderen Art ist immer noch ein Liebesfilm.

Peter Gutting