Welcome Venice

Zum Vergrößern klicken

Die Filme des Italieners Andrea Segre handeln häufig von seiner Heimatstadt Venedig und den drastischen Veränderungen, die diese in den letzten Jahren durchlaufen hat. Vor dem Hintergrund des durch den Massentourismus vorangetriebenen Wandels erzählt er in „Welcome Venice“ von einem Familienkonflikt, der unterschiedliche Einstellungen und scheinbar unvereinbare Lebensweisen miteinander kollidieren lässt. Und: Er zeigt Venedig als einen Ort, wie man ihn sonst nicht kennt. Als Touristen-freie, menschenleere Stadt der Brücken und Kanäle, die eine magische Aura entfaltet.

Italien 2021
Regie: Andrea Segre
Buch: Andrea Segre, Marco Pettenello
Darsteller: Paolo Pierobon, Andrea Pennacchi, Roberto Citran,
Anna Bellato, Guiliana Musso

Länge: 100 Minuten
Verleih: Kairos Film
Kinostart: 03. August 2023

FILMKRITIK:

Piero (Paolo Pierobron) und Alvise (Andrea Pennacchi) entstammen einer alten traditionellen Fischerfamilien aus Giudecca. Giudecca ist eine der Inseln, aus denen Venedig besteht. Piero und sein Bruder Toni arbeiten, wie einst ihr Vater, als Moechen-Fänger – die „moeche“, das sind die typischen Krebse der Lagune, von denen die Familie lange gut leben konnte. Doch die Zeiten haben sich geändert. Das Dasein als Fischer draußen auf den Flüssen ist hart, finanziell einträglich ist die Arbeit längst nicht mehr. Was der Familie, ebenso wie den meisten anderen Einwohnern Venedigs, zu schaffen macht: Die Touristenströme verändern die Stadt – und mit ihr die Realität und die Identität Venedigs und der Menschen. Nach dem tragischen Tod Tonis kommt es in der Folge zu tiefen Rissen innerhalb der Familie.

Andrea Segres Familiendrama handelt von Widersprüchen und Gegensätzen. Diese ziehen sich auf verschiedenen Ebenen wie ein roter Faden durch den Film. Ein erster solcher Kontrast zeigt sich am Handlungsort selbst: der italienischen Lagunenstadt, erbaut auf mehr als 100 kleinen Inseln. Segre stammt selbst aus der Nähe von Venedig hat sich bereits in seiner Doku „Moleküle der Erinnerung“ der eigenen Vergangenheit und seiner Heimatregion gewidmet.

Da Alvise sein Geld damit verdient, Häuser und Wohnungen in Venedig an ausländische Gäste zu vermieten, spielt Segre auf diese Weise auf eines der großen Probleme an: die Stadt versinkt im Kommerz und Massentourismus. Vom einst ursprünglichen Charme ist wenig übriggeblieben. Der Clou ist, dass Segre „Welcome Venice“ zur Zeit der Covid-Pandemie drehte und die Stadt auf eine Art einfängt, wie es lange nicht möglich war – und es womöglich nie mehr sein wird. Nämlich nahezu menschenleer. Und so haben die Aufnahmen der leergefegten Gassen, Plätze und Kanäle etwas Unwirkliches und völlig Entrücktes. Eine spannende Gegensätzlichkeit, die „Welcome Venice“ eine traumhaft-hypnotisierende Wirkung einverleibt.

Unterschiedlicher könnten auch die Brüder Piero und Alvise nicht sein. Gewissermaßen symbolisieren die Zwei das Traditionelle bzw. die Vergangenheit. Und andererseits die Moderne und die Gegenwart. Während Pietro nicht von seinem archaischen Leben als Krabbenfischer lassen kann und noch immer im alten Elternhaus wohnt, will Alvise mit der Zeit gehen und das Haus in renoviertem Zustand künftig lukrativ an Tagesgäste vermieten. Paolo Pierobron und Andrea Pennacchi agieren überzeugend als gegensätzliches Brüderpaar und füllen ihre Rollen mit Tiefe und Kraft aus. Wobei schon optisch die Unterschiede mehr als deutlich werden.

Piero erscheint als zottelbärtiger, uneitler Überlebenskünstler, während der stets akkurat gekleidete, kapitalistisch veranlagte Alvise mit seinem Oberlippenbart an Marlon Brandos Pate erinnert. Eine geschickte, augenzwinkernde Anspielung auf eine Figur, die es – wie Alvise – ebenso auf Macht und Gewinn abgesehen hat. Allerdings fällt auf, dass Segre den Brüdern wenig Raum für charakterliche Entwicklungen zugesteht. Vielmehr verharren die Beiden stoisch in ihren Glaubenssätzen und machen es dem Zuschauer nicht leicht Sympathien zu entwickeln.

Das Erzähltempo und die Art der Inszenierung setzen ganz auf Entschleunigung und Langsamkeit. Dazu passen die ruhigen, stillen Aufnahmen der unberührten Flüsse und Seen, auf denen Piero seiner Arbeit nachgeht. All dies erfordert vom Betrachter mitunter Geduld und die Bereitschaft, sich auf diese fast besinnliche, in jedem Fall hochatmosphärische Stimmung einzulassen.

 

Björn Schneider