Who’s Afraid Of Alice Miller?

Von seiner Mutter verstoßen, vom Vater geschlagen – der Therapeut Martin Miller arbeitet in der bewegenden Dokumentation „Who’s afraid of Alice Miller“ seine Kindheit ohne Liebe auf. Erklärungen für das Verhalten vor allem seiner Mutter, die später eine weltbekannte Kindheitsforscherin und Kinderpsychologin wurde, findet er in ihrer Vergangenheit. Der Film ist eine sehr persönliche, intensive Suche nach den eigenen Wurzeln und den unbewältigten, traumatischen Erlebnissen der Mutter. Es geht um die Entstehung von Traumata, Selbstverleugnung und das größte Verbrechen in der Menschheitsgeschichte.

Website: www.whosafraidofalicemiller.com/

Schweiz 2020
Regie: Daniel Howald
Darsteller: Martin Miller, Irenka Taurek, Cornelia Kazis, Oliver Schubbe
Länge: 101 Minuten
Verleih: Arsenal
Kinostart: 11.11.2021

 

Über den Film

Originaltitel

Who’s afraid of Alice Miller

Deutscher Titel

Who’s Afraid Of Alice Miller?

Produktionsland

CHE

Filmdauer

101 min

Produktionsjahr

2020

Produzent

Matter, Frank

Regisseur

Howald, Daniel

Verleih

Starttermin

10.11.2021

 

FILMKRITIK:


Der Therapeut Martin Miller erlebt von seiner Mutter Gefühlskälte und wird vom Vater geschlagen. Seine Kindheit verläuft ohne viel Liebe und Zuneigung. Er ist der Sohn der Psychoanalytikerin und Kinderrechtlerin Alice Miller, die mit ihrem Buch „Das Drama des begabten Kindes“ (1979) Weltruhm erlangte. In diesem Buch, sowie in ihren späteren Arbeiten, beschäftigt sich die gefragte Pädagogin mit den Folgen von Verdrängung und den Ursachen kindlicher Verletzungen.

Nach ihrem Tod begibt sich Martin auf eine Reise, um endlich den großen Widerspruch in Alice Millers Leben zu verstehen: jenem zwischen der erfolgreichen Kindheitsforscherin und der unberechenbaren Mutter, die ihren Sohn gedemütigt und für Jahre in Heime gegeben hat. Schließlich entdeckt Martin das Trauma seiner Mutter. Sie musste als junge Frau in ihrer polnischen Heimat den Holocaust miterleben und entkam den Todeslagern nur knapp.

Gemeinsam mit Regisseur Daniel Howald begibt sich Martin Miller auf die Suche nach der Geschichte seiner Mutter. Über das Verständnis dessen, was ihr widerfahren ist, versucht er ihre späteren Verhaltensweisen nachzuvollziehen und zumindest ein Stück weit Verständnis zu entwickeln. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg und eine mühsame Reise, die Howald und Miller als eine Art filmisch-therapeutischen Roadtrip anlegen. Er führt die Beiden zu einigen wichtigen Lebensstationen von Alice Miller und lässt sie auf Menschen treffen, die sie kannten oder mit ihr aufgewachsen sind. Oder beides.

Wie Irenka Taurek, die Cousine von Alice, die mit ihr zusammen aufwuchs und später in die USA auswanderte. Gemeinsam mit Martin begibt sie sich auf eine Reise in die Vergangenheit, nach Polen. Alice Miller überlebte dort dank gefälschter Papiere das Ghetto und die deutsche Besatzung. Doch sie musste Tod und Leid um sich herum erfahren. Und: Ihr Vater verstarb im jüdischen Sammellager.

All dies und noch viele weitere Informationen fördert „Who’s afraid of Alice Miller“ zutage. Ebenso die Tatsache, dass Alice lange verschwieg, auch nach ihrer Emigration in die Schweiz, Jüdin zu sein. Eine Verleugnung des eigenen Selbst, der eigenen Identität. Oder die undurchsichtige Rolle des Vaters während der NS-Zeit, bei dem nie ganz klar war, ob er die Nazis nun (stillschweigend) bekämpfte oder mit ihnen kollaborierte.

Mit Hilfe von weiteren Therapeuten aus dem Familien- und Freundeskreis der Millers geht Martin auf investigative, akribische Weise der Frage nach, wie die Erfahrungen des Holocausts die Zeitzeugen geprägt haben. Und wieso ihre unbewältigten Erlebnisse oft auch auf die erste Generation nach ihnen, ihre Kinder, abfärbten. Eine hochkomplexe Frage, die der mit Archivaufnahmen aus der NS-Zeit und vielen Original-Bildern von Alice ausgestattete Film immerhin zum Teil beantwortet. Zwei der möglichen Erklärungsansätze: eine Projektion des Hasses auf andere (im Falle von Alice u.a. auf Hitler und die Nazis), auf die eigenen Kinder und Verdrängung, des Erlebten, der Gefühle und Bedürfnisse. Doch dies allein ist vermutlich keine abschließende, finale Begründung für Alice‘ „Versagen als Mutter“ (so beschrieb sie es einst selbst).

Besonders nachdrücklich sind die Briefe, die sich Mutter und Sohn geschrieben haben und in die der Film ausführliche Einblicke gewährt. Alice‘ Briefe, die Schauspielerin Katharina Thalbach aus dem Off liest, künden von einem zutiefst gestörten Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Und von einer Frau, die ihr eigenes Fehlverhalten erst sehr spät erkannte und eingestand.

Björn Schneider

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