Winterreise (2006)

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Die Bierbichler-Steinbichler-Connection – wahrscheinlich das spannendste Thema auf dem Filmfest München. Mit „Winterreise“ hat das Festival eröffnet, es ist der zweite Film von Hans Steinbichler, in dem (wie in „Hierankl“) Sepp Bierbichler die Hauptrolle spielt. Und natürlich tobt Bierbichler so naturgewaltig über die Leinwand, dass alle sich an ihm ergötzen, Anekdoten austauschen und hören möchten über den Kampf der Bichlers vor der Kamera und lautstark über diesen Film diskutieren. Wenn man das alles beiseite schiebt, dann hört man ein ganz leises kraftvolles Lied: „Winterreise“ ist der melancholische Abgesang eines Helden, der nicht mehr in unsere gefühlsautomatisierte Welt passt. Ein schwermütiger Film von unübersehbarer Leuchtkraft.

Webseite: www.winterreise-derfilm.de

Deutschland 2006
Regie: Hans Steinbichler
Mit: Josef Bierbichler, Sibel Kekilli, Hanna Schygulla, Philipp Hochmair, Anna Schudt, André Hennicke u.a.
95 Min.
Kinostart: 23.11.2006
Verleih: X-Verleih

PRESSESTIMMEN:

Die großartig eigensinnige und poetisch durchgeknallte Tragödie eines lächerlichen Mannes.
Der Spiegel

Ein leidenschaftlicher und mutiger Film... Sehenswert.
tip Berlin

 

FILMKRITIK:

Eine Kakophonie der Flüche grollt über die Leinwand. Gerade hat Brenninger, der Kaufmann alter Schule, noch mit vibrierender Stimme „Großer Gott wir loben Dich“ in der Kirche gesungen – lauter, inbrünstiger, dringlicher als die anderen – schon irrt er draußen durch die Welt und beschimpft alle und alles als Arschlöcher. Die Arschloch-Post mit all den Rechnungen, die Arschloch-Bank, die ihm kein Geld mehr gibt, die Arschloch-Welt, in der ein Handschlag nichts mehr wert ist, und die einen wie ihn nicht mehr versteht.

Will man die äußere Handlung des Films erzählen, dann klingt der Fortgang der Geschichte etwa so: Weil Brenninger pleite ist, und mal wieder in einer seiner Hochphasen, geht er auf ein völlig absurdes Geldgeschäft ein. Dabei wird er betrogen, was ihn dazu zwingt zusammen mit einer Übersetzerin (Sibel Kekilli) nach Afrika zu reisen, um sein Vermögen zurückzuholen.
Winterreise ist jedoch kein Film, dessen Kraft man über die Beschreibung der Handlung spürt, das war auch Hans Steinbichler klar, als er das Drehbuch zum ersten Mal las und anfing zu streichen: Handlung raus, Dialoge raus, Bierbichler rein.

Die Konzentration auf seinen Helden ist das Beste, was Steinbichler tun konnte. Das kriminaleske Abenteuer eines manisch-depressiven Mannes hat er umgeformt zu einer Reise in die Seele eines Menschen, den die Welt angezählt hat. Mal hört Brenninger lautstärkste Rockmusik, steht nackt hoch oben am Fenster seines Hauses und atmet den Schnee ein. Dann verkriecht er sich wieder ins Bett, drückt das Gesicht nach unten und klagt seiner Frau (Hanna Schygulla): „Alles ist dunkel“. Später sitzt er im Auto und hört Schuberts Liederzyklus „Winterreise“: „Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück“.  In Brenningers Herz herrscht tiefster Winter, und die Tränen rollen, wenn er Schubert singt, bei ihm und beim Publikum.

Wenn Brenninger sich aufmacht nach Afrika, dann gleicht das der Reise eines Westernhelden, der spürt, dass seine Zeit abgelaufen ist, der aber noch einen letzten Auftrag zu erledigen hat und dann seinen Frieden finden kann.

Angeblich hat der Steinbichler den Bierbichler einmal in Afrika vom Drehort verwiesen und ihn aufgefordert, bitte ein längeres kaltes Wannenbad zu nehmen. Zuviel Hitzigkeit, das geht nicht am Set. Dem Film schadet sie allerdings nicht, und die hohe Temperatur scheint auch die Diskussionen um „Winterreise“ flammend zu machen. Formidable Streitgespräche entfachten sich nach der Deutschland-Premiere in München: Einig sind sich alle darüber, dass der Film fulminant beginnt und im „Afrika-Teil“ an Kraft verliert. Aber dann gehen die Meinungen auseinander. „Bierbichler-Show“ meckern einige, eine „antimoderne Parabel“ interpretieren andere.

Eindeutig beweist sich Hans Steinbichler als einer der wenigen jungen deutschen Regisseure, die die große Leinwand mit kraftvollsten Farben ausmalen können. Im Vergleich zu „Hierankl“ ist er stilistisch sicherer geworden und nahbarer in der Erzählung, wobei beide Filme eint,  dass ihr Thema über die Geschichte hinausweist. In „Hierankl“ beschrieb er die bayerische Kunst sich totzuschweigen, „Winterreise“ hingegen steigt tief hinab in melancholische deutsche Gemüt.

Auch wenn das Drehbuch dramaturgische Schwächen hat, die beiden Bichlers sind Alchimisten, die so manchem Meter Zelluloid aufs erstaunlichste veredeln und dafür gebührt ihnen Bewunderung.

 

Sandra Vogell