Wir beide

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Nina (Barbara Sukowa) und Madeleine (Martine Chevalier) sind schon lange ein Paar – das wissen aber nur sie beide. Für Madeleines erwachsene Kinder ist Nina lediglich die deutsche Nachbarin, die in der Wohnung gegenüber lebt. Das soll sich ändern: Madeleine möchte ihrer Familie die Wahrheit sagen, und die beiden wollen ihre Wohnungen verkaufen und zusammen in ihre Sehnsuchtsstadt Rom ziehen. Doch bevor es dazu kommen kann, geschieht ein Unglück, und Nina muss um ihren Platz an Madeleines Seite kämpfen. Regisseur Filippo Meneghetti erzählt einfühlsam und dicht an seinen Personen.

Webseite: www.weltkino.de/filme/wir-beide-2

Frankreich, Luxemburg, Belgien 2019
Regie: Filippo Meneghetti
Darsteller: Barbara Sukowa, Martine Chevalier
Filmlänge: 95 Minuten
Verleih: Weltkino
Kinostart: 6. August 2020

FILMKRITIK:

Eine Bank im Park. Zwei Mädchen im Grundschulalter, eins in schwarz, eins in weiß gekleidet, spielen Verstecken zwischen den Bäumen. Eins versteckt sich hinter einem Baum, das andere sucht, hat die Freundin fast entdeckt, läuft um den Baum herum, und findet: Nichts. Das erste Mädchen ist wie vom Erdboden verschluckt, so als wäre es niemals da gewesen. Eine Erinnerung, eine Vorahnung?

Der Vorspann, der die Erfahrung einer existentiellen Leerstelle als Alptraumbild vorwegnimmt, ist eine der wenigen, gekonnt platzierten, überhöhten Szenen in Filippo Meneghettis Langfilmdebüt. Später wird noch eine Wanduhr auftauchen als Zeichen von Lebenszeit, die schneller vertickt, und die uns weniger gehört, als wir glauben. Zumeist erzählt Meneghetti aber naturalistisch, reduziert und sehr nah an seinen Personen: Nina (Barbara Sukowa) und ihre Freundin Madeleine (Martine Chevalier), die sie zärtlich Mado nennt, wohnen in einer unbenannten französischen Stadt auf dem gleichen Flur in gegenüberliegenden Wohnungen. Sie sind ein altes, lange miteinander vertrautes Paar und träumen davon, zusammen nach Rom zu ziehen, in die Stadt, in der sie sich damals kennengelernt haben. Vor allem Nina, die damals die Stadtführerin von Madeleines Reisegruppe war, möchte das. Madeleine tut sich schwerer, denn sie hat Familie, der sie nie von Nina erzählt hat. Für ihre erwachsenen Kinder und die Nachbarn ist Nina nur Madame Dorn, die deutsche Nachbarin von gegenüber.

WIR BEIDE erzählt zunächst vor allem aus Madeleines Perspektive. Aus ihrer Sicht erleben wir, wie Nina sie drängt, die Wohnung zu verkaufen und ihrer Familie endlich, endlich die Wahrheit zu sagen. An Mados Geburtstagsessen soll es dann so weit sein, aber die warme, harmonieliebende Mado bringt es einfach nicht über sich, den Familienfrieden zu zertrümmern, und bricht mitten in der Ansprache ab. Als Nina das herausfindet kommt es zum Streit, und noch bevor sich die beiden aussprechen können, erleidet Madeleine einen Schlaganfall, der sie sprachlos zurücklässt.

War Mado bisher das Zentrum, bewegt sich der Blick nun zu Nina, die einsamer, kantiger, an der Seite des Geschehens steht. Meneghetti findet eindringliche Bilder für Ninas Verlorenheit und ihre Versuche, sich ihren Platz an Madeleines Seite zurück zu erkämpfen. Während die Kinder in der Klinik auf die Ergebnisse warten dürfen, sehen wir Nina alleine in ihrer fast leeren Wohnung sitzen – das gemeinsame Zuhause war die Wohnung gegenüber. Kaum vergeht die Zeit, nervös klopfen Ninas Finger gegen die Kaffeetasse. Immer wieder geht sie zum Türspion und versucht herauszufinden, was in der Wohnung gegenüber vorgeht. Sie schleicht sich nachts an Madeleines Seite, besticht die Pflegerin, und läuft in ihrer Verzweiflung Gefahr, als übergriffige Alte abgestempelt und auf immer ausgeschlossen zu werden.
Für einen Moment schleichen sich da Thriller-Momente in den Film. Vor allem aber ist WIR BEIDE ein Film über Liebe und Familie und ein Plädoyer für Kommunikation. Zweisamkeit ist eben nicht nur eine Angelegenheit zwischen zwei Personen, sondern benötigt den Schutz und die Anerkennung der Gemeinschaft. Glück und Träume, von denen niemand weiß und die niemand schützt, sind schnell verloren. Die Uhr tickt.

Hendrike Bake