Zeit des Zorns

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Demonstrationen und Polizeistaat Iran als Kinostoff? Das könnte leicht zur plumpen Powerpoint-Präsentation mit politisch korrekter Betroffenheitsbotschaft geraten. Doch weit gefehlt! Spannend wie ein Thriller, fast Western, erzählt dieses mitreißende Drama von den kafkaesken Zuständen im heutigen Teheran. Ein Nachtwächter erfährt, dass Frau und Tochter durch Polizeikugeln bei einer Demonstration erschossen wurden. Bei den Behörden wird er gnadenlos zum Bittsteller degradiert. Ebenso gnadenlos nimmt er Rache. Im Stil des italienischen Neorealismus entwirft Rafi Pitts sein wütendes Bild des Iran und fordert vor allem gegenseitige Toleranz jenseits von Schwarz-Weiß-Denken. Intensives Kino, rasant erzählt, visuell überzeugend – und mit überraschendem Finale. Schade, dass dieser Berlinale-Favorit bei den Bären leer ausging.

Webseite: www.neuevisionen.de

Deutschland / Iran 2010
Regie und Buch: Rafi Pitts
Kamera: Mohammad Davudi
Darsteller: Rafi Pitts, Mitra Hajjar, Ali Nicksaulat, Hassan Ghalenoi, Manoochehr Rahimi.
Länge: 88 Minuten
Format: 35 mm; 1:1,85; Dolby Digital SR-D
Verleih: Neue Visionen Filmverleih
Start: 8. April 2010
Weltpremiere: Berlinale Wettbewerb 2010
 

PRESSESTIMMEN:

Sehenswert!
Tip Berlin

Frau und Tochter eines Teheraner Nachtwächters werden am Rande einer Demo erschossen, der Mann beginnt einen wütenden Rachefeldzug gegen den Polizeistaat. Auch wenn westliche Zuschauer im neuen Werk des iranischen Filmemachers Rafi Pitts wohl nie alle politischen Anspielungen entschlüsseln können: Der Thriller "Zeit des Zorns" nimmt trotz seines manchmal etwas behutsamen Erzähltempos mit verwunschenen Bildern und einer aktuellen Handlung gefangen.
STERN

FILMKRITIK:

Ali kommt gerade aus dem Gefängnis frei. Mit Frau und Tochter möchte er fortan ein friedliches Familienleben führen. Allzu oft bekommt er die beiden indes nicht zu sehen, wegen der Vorstrafe teilt sein Chef den neuen Security-Angestellten im Presswerk zur unbeliebten Nachtschicht ein. Aber Ali arrangiert sich so gut es geht mit den Verhältnissen, derweil es in Teheran zunehmend zu Tumulten wegen der Wahlfälschungen kommt. Am nächsten Morgen findet der Nachtwächter seine Wohnung verwaist vor. Ein Anruf beordert ihn zum Polizeirevier. Nach stundenlangem Warten eröffnet ihm dort schließlich ein Inspektor in bürokratischem Ton, dass seine Frau bei einer Demonstration in die Schusslinie geraten sei. Die Schuldfrage wäre völlig unklar. Dass auch seine Tochter erschossen wurde, erfährt Ali erst zwei quälende Tage später.

Ohnmächtig und voller Wut setzt sich Ali mit seinem Jagdgewehr auf einen Berg und nimmt die Fahrzeuge der nahen Autobahn ins Visier. Als eine Polizeistreife auftaucht, drückt er eiskalt ab. Nach diesem Doppelmord bekommt das Drama im letzten Drittel eine neue Wendung. Bei einer wilden Auto-Verfolgung wird Ali gestellt. Er flieht in den Wald, wird gefasst – doch dann verlaufen sich die zwei uniformierten Häscher und der Täter orientierungslos im nebligen Gelände. Zwischen den beiden ungleichen Polizisten bricht ihr schwelender Streit immer stärker aus. Als das Trio in einer verlassenen Hütte Schutz vor dem Regen sucht, sieht der Gefangene seine Chance zur Flucht – doch dann kommt alles ganz anders, als man denkt.

Autor und Regisseur Rafi Pitts, der kurzfristig auch noch die Hauptrolle übernahm, inszeniert sein Drama mit auffallend leisen, minimalistischen Tönen. Der hektische Asphalt-Dschungel von Teheran mit seinem schier endlosen Straßenverkehr wirkt wie die Highway-Betonwüste von Los Angeles. Wie sehr es in der Stadt nach den Wahlen politisch gärt, erfährt der Held nur aus dem Autoradio.

Die Innenansichten der Staatsmacht erfährt das Publikum in den Gesprächen der ungleichen Polizisten: Der eine, ein junger Wehrpflichtiger voll Idealismus. Sein Chef, ein korrupter Cop, der über Leichen geht. Dazwischen der getriebene Held, der aus purer Verzweiflung zum Killer wider Willen mutierte. Wenn dieses ungleiche Trio sich im nebligen Wald verläuft, gerät das zur Metapher der Orientierungslosigkeit eines zerrissenen Landes. In den Uniformen der allgegenwärtigen Staatsmacht stecken durchaus Menschen. Derweil der einfache Mann aus dem Volk in einem fatalen Teufelskreis selbst zum blutrünstigen Rächer wird.

„Ich wollte zeigen, wie verhängnisvoll es werden kann, wenn jeder von sich glaubt, er allein wäre im Recht“, erläutert Pitts seinen Film. „Beide Seite, die Regierung und der Widerstand, denken nur in den Kategorien von Gut und Böse – und das ist sehr gefährlich. Unser Land benötigt vor allem Toleranz, sonst werden die Dinge eskalieren.“ Diese dialektische Art der Darstellung macht das Drama umso spannender. Visuell einfallsreich und atmosphärisch dicht, schildert Riffs die packende Anatomie einer Rache und zeichnet mit dem privaten Drama das Bild einer politisch gespaltenen Gesellschaft.

Dass der kritische Film an der staatlichen Zensur vorbei entstehen konnte, verdankt er dem Mut und der Findigkeit eines risikobereiten iranischen Filmemachers – und der Unterstützung deutscher Förderer, von World Cinema Fund, Medienboard Berlin-Brandenburg und FFA. Eine durchaus gelungene Investition, kommt hier doch auch der Kinogänger sehr gut auf seine cineastischen Kosten.

Dieter Oßwald

Teheran. Ali lebt dort mit seiner Frau Sara Alavi und Töchterchen Saba. Die drei sind glücklich, auch wenn Ali, weil er einmal in Haft saß, in seinem Betrieb nur in die Nachtschicht eingeteilt ist und deshalb seine Lieben nicht so oft und so lange sehen kann, wie er das eigentlich möchte.

Eines Tages kommt er nach Hause. Niemand ist da. Sara und Saba sind nicht mehr aufzufinden. Dann von der Polizei die schreckliche Nachricht, dass Sara bei einer Demonstration getötet worden sei.

Jetzt will Ali zumindest die kleine Saba finden. Er sucht lange. Er fahndet vergebens. Er ist verzweifelt. Die Behörden wimmeln ihn immer wieder ab. Nun kann es nicht mehr schlimmer kommen: Auch die kleine Saba ist tot.

Warum kam Sara bei einem Gefecht mit der Polizei um? Warum wurden die Opponenten des Regimes mit Schüssen traktiert? Ali wird nicht nur von einem privaten Unglück getroffen, das Ganze hat eine eminente politische Dimension.

Für ihn, den Jäger, der schon früher immer lange den Wald durchstreifte, ist die „Zeit des Zorns“ angebrochen. Er erschießt zwei Polizisten. Erneut soll der Wald sein Flucht- und Zufluchtsort sein. Aber er wird gefasst.

Nur: Auch was jetzt geschieht, ist hoch politisch. Denn die beiden Polizeibeamten, die den Flüchtigen geschnappt haben und sich mit ihm im Wald verirren, gehören gegensätzlichen Lagern an: rigoros, systemgetreu, brutal und zum Erschießen Alis entschlossen der eine, liberaler, menschlicher, hilfsbereiter der andere.

Es ist ein mühsamer, lang gezogener, düster-depressiver auf wenige wenngleich aussagekräftige Schauplätze und Schauwerte beschränkter Film, der dem Zuschauer einiges an Interesse und Geduld abverlangt, und dies sowohl thematisch als auch formal.

Aber wie gesagt, die politische Offenlegung, die Metaphern und Symbole dazu sind nicht zu unterschätzen, vor allem da dies der Film eines Iraners ist. Viel sagend, was Regisseur Rafi Pitts selbst dazu erklärt: „Ali steht für all jene, die Repressionen des Machtapparates satt haben und trotz der Gefahr für Leib und Leben Fragen stellen, auf die sie noch keine Antwort bekommen. Sie sind ungeduldig und wollen nicht auf Änderung warten, sie handeln.“

Thomas Engel