Zustand und Gelände

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Das anspruchsvolle Filmessay ist eine echte Arthouse-Entdeckung für Doku-Fans: Was als winterlicher Spaziergang in die Vergangenheit startet, formt sich zu einer Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, die von Minute zu Minute dichter wird, eine Reise durch die Zeit und von Ort zu Ort, von Raum zu Raum. Der Ausgangspunkt sind frühe, „wilde“ Konzentrationslager, vor allem in Sachsen. Im Fokus stehen Menschen, die Opfer und Täter wurden, jedoch werden sie nicht gezeigt oder befragt, sondern sie werden zitiert. Anhand der Original-Texte von 1933 bis in die Gegenwart werden die Bilder der Orte von heute zu zeitlosen Dokumenten einer Erinnerungskultur, die sich selbst in Frage stellt.

Preise/Auszeichnungen
2019 DOK Leipzig, Goldene Taube und ver.di-Preis
2019 FID Marseille, Prix premier

Webseite: https://grandfilm.de/zustand-und-gelaende/

Dokumentarfilm
Deutschland 2019
Buch und Regie: Ute Adamczewski
Drehbuch: Ute Adamczewski
Zusammenarbeit: André Siegers
Kamera: Stefan Neuberger
Sprecherin: Katharina Meves
119 Minuten
Verleih: Grandfilm
Kinostart: 5. November 2020

FILMKRITIK:

Die preisgekrönte Dokumentation von Ute Adamczewski kann noch mehr als sich mit Erinnerungskultur auseinanderzusetzen – und sie will noch mehr: Hier wird Geschichte wörtlich genommen, als Schichtung von Ereignissen und Erlebnissen, jeweils in unterschiedlichen Räumen und zu unterschiedlichen Zeiten. Jede einzelne Episode steht für viele andere. Das Gesamtbild am Ende ähnelt jedoch keineswegs einer Torte, denn die Schichten, um die es hier geht, sind weder schön anzusehen noch besonders appetitlich. Eher bietet sich der Vergleich mit Erosionsschichten an, wo Steine durch Zeitablauf zu Sand verrieben und zusammengepresst werden. So ergibt sich nach außen ein Bild, das von den Spuren der Zeit gleichzeitig geprägt und nivelliert wird, so dass es notwendig wird, Interpretationen und Zuordnungen zu schaffen, die manchmal von der Realität konterkariert werden. Rote Fahnen flattern im Wind – erst später erkennt man das Sparkassen-Logo darin. Aus der ständigen visuellen Konfrontation mit dem Nicht-mehr-Vorhandenen – kaum etwas erinnert an die unrühmliche Vergangenheit der Gebäude – ergeben sich in Kombination mit den gesprochenen Texten immer wieder neue Assoziationen. Gehörtes und Gesehenes begegnen sich auf diese Weise, erschaffen neue Räume oder rekonstruieren die früheren. Ein ständiger Wechsel findet statt zwischen realistischen visuellen Eindrücken des Heute und den akustischen Aufzeichnungen des Gestern. Das ist anstrengend, die Aufmerksamkeit des Publikums wird stark in Anspruch genommen, aber die Mühe lohnt sich. Die strenge Form des Films und seine Wirkung passen perfekt zusammen.

Aber worum geht es eigentlich? Schon im März 1933, wenige Wochen nach der Machtergreifung der Nazis, fanden sich zahlreiche dienstbeflissene Nationalsozialisten, die sich sofort ans Werk machten, jeden politischen Widerstand mit Gewalt zu ersticken. Es gab viel für sie zu tun, besonders in Sachsen mit seinen gut organisierten Arbeitervereinigungen. Überall in Dörfern und Städten entstanden „wilde“ Konzentrationslager, die oft nur einige Monate existierten. Dazu dienten neben Schlössern und Burgen auch Jugendherbergen, Fabriken und Gasthöfe. Manche wurden „Schutzhaftlager“ genannt – ein euphemistischer Begriff dafür, dass dort Menschen gegen jede Rechtsprechung gefangen gehalten und gefoltert wurden. Am Ende des Films ist eine aufschlussreiche Liste zu lesen, welche Gründe dafür herhalten mussten. Die Parteizugehörigkeit, der Glaube, aber auch die Lächerlichmachung des Hitlergrußes gehörten dazu. Es ist eine sehr lange Liste.

Es gibt keine Handlung und nicht einmal einen logischen Ablauf, lediglich eine vage zeitliche und räumliche Verortung: Sachsen, heute, offenbar in der Vorweihnachtszeit. Städte und Dörfer werden besichtigt, abgelaufen, durchfahren, die Kamera verharrt oft an einem Gebäude, dessen Funktion nicht sofort klar wird. Anhand von alten Originalakten, Zeitzeugenberichten, Briefen und literarischen Texten, alles mit sanfter, junger Stimme vorgetragen von der Schauspielerin Katharina Meves, werden Orte aufgesucht, an denen Unrecht geschah, wo Menschen gelitten haben und beinahe nichts daran erinnert. Dann wird die Geschichte wie Erdreich gepresst zum erschütternden Nebeneinander und Übereinander von Situationen und von Menschenschicksalen, die von Macht und Gewalt profitieren wollten oder daran zugrunde gingen. Namen über Namen, jeder einzelne hat eine Biographie: das scheinbar brave Bürgerlein, das zum sadistischen Folterknecht wird; die Ehefrau, die bei der Behörde um das Leben ihres Mannes bettelt; die gepeinigten Häftlinge und Zwangsarbeiter – hier wurde der Grundstein gelegt für die späteren Konzentrationslager und ihre willfährigen Schergen. Die Textdokumente werden immer aktueller, bald scheinen sich die Berichte von der Verfolgung durch Neonazis aus der letzten Zeit kaum noch von den bald 90-jährigen Worten von Gewaltopfern zu unterscheiden. Die Assoziationen häufen sich, und sie fügen sich zu einem Ganzen, das unschön ist und auf schmerzhafte Weise wahrhaftig.

Gaby Sikorski