Zwei Herren im Anzug

Zum Vergrößern klicken

Edgar Reitz trifft Herbert Achternbusch trifft Gerhard Polt trifft Oskar Roehler: Mit 69 Jahren präsentiert Schauspiel-Urgestein Josef Bierbichler die Verfilmung seines Roman-Debüts „Mittelreich“ als eigenwillige Heimat-Saga der rigorosen Art. Am Beispiel einer Bauern-Familie in der oberbayrischen Provinz zeigt er ein Zeitgeist-Mosaik des vorigen Jahrhunderts. Vom Ersten Weltkrieg über die Nazi-Zeit bis zum Wirtschaftswunder und die 70-er Jahre: „Das blau-weiße Band“ gewissermaßen. Betörend schöne Bilder. Verstörend böse Menschen. Sowie zwei, drei provokative Szenen, die an das Limit des Erträglichen gehen. So sieht mutiges, wuchtiges Kino aus: Viel Blasmusik, aber kein Prosit der Gemütlichkeit - und prompt kein Bayrischer Filmpreis und keine Berlinale für diesen Geniestreich. Ein kreativer Berserker wie der Bierbichler wird gleichwohl sein Publikum finden.

Webseite: www.x-verleih.de

Deutschland 2017
Regie: Josef Bierbichler
Darsteller: Josef Bierbichler, Martina Gedeck, Simon Donatz, Irm Hermann, Sarah Camp
Länge: 139 Min.
Verleih: X-Verleih
Kinostart: 22.3.2018

FILMKRITIK:

Anno 1984 endet die Chronik mit der Beerdigung der Mutter. Der Witwer Pankraz (Bierbichler) und sein entfremdeter Sohn Semi (gespielt vom realem Sohn, Simon Donatz) versuchen sich nach dem Leichenschmaus im Gasthaus mit einem Gespräch nach jahrelangem Schweigen. „Ich muss mich erinnern!“, sagt der Alte und kramt in einer Kiste mit alten Schwarz-Weiß-Fotos. Mit Rückblenden erzählt er fortan als Ich-Erzähler, was sich seinerzeit zugetragen hat.

„Serbien muss sterbien“ grölt ein Trupp in Lederhosen, „bis Kirchweih sind wir zurück“ gibt man sich siegessicher. Der Krieg jedoch fordert Opfer. Der ältere Bruder Toni kehrt mit Kopfschuss als psychisches Wrack und fanatischer Juden-Hasser zurück. Pankraz muss seinen Traum als Opernsänger aufgeben, um den heimischen Hof zu übernehmen. „Ich war zwar nie ein Nazi. Aber kein Nazi war ich nie“, erklärt er dem Sohn sein Mitläufertum. „Ich war erst 31. Alles war leicht und vollkommen.“  heißt eine andere Entschuldigung. Die Zeit als Soldat hat er völlig verdrängt: „Ich weiß nichts mehr. Nur weiße Landschaften, sonst nichts“. Nicht nur den Vater plagen düstere Traumata, Sohn Semi hat im Klosterinternat gleichfalls die Hölle durchlebt.

Mit einer gängigen Familien-Saga will sich ein kreativer Berserker wie Bierbichler natürlich nicht begnügen. Er setzt vergnüglich auf ein Füllhorn surrealer Visionen, Verfremdungen sowie allerlei Provokationen. Da wird die gute alte Blasmusik durch die subkulturellen Töne der „Kofelschroa“-Jungs frisch aufgemischt. Beim bäuerlichen Faschingsball in der Nachkriegszeit sorgt eine lüsterne Lady mit Hitlermaske für Aufregung derweil der Hausherr mit Wagner-Arien und Hölderlin-Zitaten am stürmischen Seeufer sein Lebensleid klagt. Fehlt nur noch, dass der Sohn sich die Kleider vom Leib reißt, um sich mit ödipaler Absicht ins Bett der sterbenden Mutter zu legen. Visuell geht es weitaus feinsinniger zu. Tom Fährmann, preisgekrönter Stammkameramann von Sönke Wortmann, präsentiert wunderbare Tableaus in Schwarz-Weiß oder schleicht sich elegant durch leicht geöffnete Türen an die Figuren heran.

Unter eigener Regie hat der leinwandpräsente Bierbichler sichtlich Spaß, mit laut polternder Schale und tief verletztem Kern, dem Affen gehörig Zucker geben. Die langjährige Fassbinder-Muse Irm Hermann läuft gleichfalls zu Hochform auf und erinnert an Loriots legendäre Zugfahrt-Szene aus „Pappa ante Portas“.

Da ist es schon irritierend, wie solche wuchtiges Kino von der Berlinale ignoriert und dem Bayrischen Filmpreis geschnitten wurde. Vielleicht nimmt es der Bierbichler als Kompliment. Braucht er schon kein Herr im Anzug sein. Hochkarätige Preise hat er sowieso schon genug!

Dieter Oßwald

Man kennt ihn vor allem als Schauspieler mit schwerem bayrischen Akzent und wuchtiger Körperlichkeit: Josef Bierbichler. Doch jetzt hat er selbst einen Film auf die Beine gestellt, als Autor und Regisseur und natürlich in einer Hauptrolle. Vorlage war sein eigener Roman „Mittelreich“. Darin geht es um nicht weniger als 70 Jahre deutscher Geschichte, vom Ersten Weltkrieg bis in die frühen achtziger Jahre, und um die Beziehung eines Vaters zu seinem entfremdeten Sohn. Und die zwei Herren im Anzug? Die wachen darüber, dass auch das schlimmste Trauma ans Licht kommt.

Es beginnt mit zwei schwimmenden Hüten auf einem See, die von der Kamera überflogen werden, und endet mit zwei Hüten auf einem See, die als letztes Bild übrigbleiben. Dazwischen entfaltet Hauptdarsteller, Autor und Regisseur Josef Bierbichler nach seinem eigenen Roman „Mittelreich“ sieben Jahrzehnte bayrischer (und somit auch deutscher) Geschichte, ausufernd, überbordend und mit fast zweieinhalb Stunden auch sehr lang.
 
Im Spätsommer 1984 sitzen der Wirt und Bauer Pankraz, dargestellt von Bierbichler selbst, und sein 35-jähriger Sohn Semi (Simon Donatz) im Tanzsaal eines Gasthauses, an besagtem See in Oberbayern gelegen, beisammen. Sie sind die letzten Gäste einer Trauerfeier zu Ehren von Pankraz’ verstorbener Frau Theres (Martina Gedeck). Sie haben sich lange nicht gesehen, sie sind sich fremd, der Sohn fühlt sich vom Vater ungeliebt, sogar verachtet und zurückgewiesen. Und so beginnt der Vater zu erzählen, während die Bilder in kontrastreiches Schwarzweiß wechseln: von Kindheit und Erstem Weltkrieg, vom Traum, Opernsänger zu werden, und der Notwendigkeit, stattdessen den väterlichen Hof zu übernehmen, von Erwachsenwerden und Zweitem Weltkrieg, von alliierter Besatzung und den fünfziger Jahren, von den schlesischen Flüchtlingen und dem Wirtschaftswunder. Auch ein Trauma kommt zur Sprache, sehr stockend, weil es so verschüttet, so unaussprechbar ist. Die zwei unbekannten, vornehm gekleideten Herren, die der Filmtitel meint, sind Zeugen davon. Und mahnen Pankraz, mit seiner Erzählung nicht aufzuhören.
 
Man muss schon den Mut und die Energie bewundern, mit der Josef Bierbichler diesen Film auf die Beine gestellt hat, vom Schreiben des Drehbuchs (das ja auch eine Verknappung des eigenen Romans bedeutete) bis zur Übernahme der Hauptrolle. Es lag ihm viel auf dem Herzen, so scheint es, das Flüchtlingsthema vor allem, das sich auf seine Aktualität hin abklopfen lässt, die Motive von bayrischer Heimat und Geschichte, die Schuldfrage im Zweiten Weltkrieg, die Aufarbeitung der Nazivergangenheit im Dorf. „Ich war zwar nie ein Nazi. Doch kein Nazi war ich nie,“ heißt es an einer Stelle.
 
Der Film ächzt unter der Last der angesprochenen Themen. Nicht immer hat Bierbichler als Regisseur dabei die Zügel fest in der Hand. Manche Szene droht ihm schlicht zu entgleiten, in manche Einfälle ist er zu verliebt. So geht die Faschingsszene mit schwarzem Besatzungssoldaten förmlich aus dem Leim, sie ist zu lang und leblos, und die Frage, ob man über Hitler lachen dürfe (ein weiblicher Gast hat sich die Haare streng zur Seite gekämmt und ein schmales Schnurrbärtchen angeklebt und genießt seine dominante Ausstrahlung), hatten schon Chaplin und Lubitsch viel früher positiv beantwortet. Die Musik, von Wagners „Lohengrin“ bis Verdis „Rigoletto“, ist hingegen zu bedeutungsschwer geraten.
 
Kein ganz geglückter Film also. Und doch gelingen Bierbichler immer wieder großartige Szenen, etwa wenn ein umgestürzter Baum das Dach des Bauernhofes wegfegt oder der lebensmüde Vater allein auf einer Eisscholle hockt. Bilder, die man so schnell nicht vergisst.
 
Michael Ranze