Dem Horizont so nah

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Leseratten wissen Bescheid: Dies ist die Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Jessica Koch, die ihre eigenen Erlebnisse verarbeitete. Ein 18-jährige fröhliche Schülerin lernt auf der Kirmes einen attraktiven, frechen Kerl kennen, der als Model arbeitet und mit schickem Auto und großer Wohnung eine gute Partie wäre. Doch er birgt auch ein schreckliches Geheimnis. Und so kommt zur jugendlichen Romanze das ernsthafte und anspruchsvolle Thema Umgang mit HIV-Infektion und Missbrauch hinzu. Von Luna Wedler in ihrer Mischung aus Lebensfreude und Sensibilität hervorragend gespielt.

Webseite: www.studiocanal.de

Deutschland 2019
Regie: Tim Trachte
Darsteller: Luna Wedler, Jannik Schümann. Luise Befort, Victoria Mayer, Stephan Kampwirth, Denis Moschitto, Frederick Lau
Länge: 109 Min.
Verleih: Studiocanal
Kinostart: 10.10.2019
 

FILMKRITIK:

Boys meets girl. Eine Liebesgeschichte, wie so viele andere, könnte man meinen, und schon der Titel erinnert an anrührende Hollywoodfilme, vielleicht nach einem Roman von Nicholas Sparks, „Das Lächeln der Stille“ oder „Kein Ort ohne Dich“ zum Beispiel. Doch Kenner des gleichnamigen Romans von Jessica Koch, im März 2016 als Beginn einer Trilogie erschienen, wissen, dass es hier um etwas anderes geht, um Krankheit und Tod nämlich, um Missbrauch und Drogensucht, beruhend auf wahren Erlebnissen der Autorin. Doch zunächst beginnt es romantisch, sehr romantisch sogar. Die 18-jährige, fröhliche Jessica, dargestellt von Luna Wedler aus „Das schönste Mädchen der Welt“, bemerkt auf der Kirmes den attraktiven, selbstbewussten Danny. Lange Blicke, ein kurzer Wortwechsel, ein kleiner Flirt, und plötzlich sitzt er in der Raupe neben ihr. Nicht, das jetzt im Dunkeln viel passierte, doch beiden (und dem Zuschauer) ist klar, dass sie sich wiedersehen werden. Danny arbeitet als Model, fährt ein schickes Auto und hat eine große Wohnung. Allerdings wohnt hier noch ein anderes Mädchen, Danny ist oft abweisend und distanziert, und dann sieht Jessica die vielen Narben auf seinem Rücken. Und jetzt kristallisiert sich allmählich Dannys Traum heraus: Er wurde als Junge vom Vater geschlagen und missbraucht. Schlimmer noch: Der Vater hat ihn mit dem HIV-Virus angesteckt, die Krankheit könnte bald ausbrechen…
 
Wie verliebt man sich angesichts einer schweren Krankheit, die schon bald zum Tod führen kann? Führen die Gefühle nicht zwangsläufig zur Verletzung des anderen? Warum sollte man im Heute leben, wenn morgen schon alles vorbei sein kann? Für eine Teenager-Romanze sind dies schwergewichtige Fragen, und man muss anerkennen, wie ernsthaft Regisseur Tim Trachte („Abschussfahrt“) nach dem romantischen Anfang des Films den Umgang mit HIV und den Missbrauch durch den Vater diskutiert. Zuweilen erinnert das an „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ (mit Shailene Woodley), der die gestellten Fragen glaubwürdig und wahrhaftig, offen und respektvoll diskutierte und beantwortete.
 
Doch mit zunehmender Dauer häuft Drehbuchautorin Ariane Schröder zu viele Probleme an, die in ihrer Forciertheit unglaubwürdig wirken und vom eigentlichen Konflikt ablenken. Nicht nur, dass Danny sich als Kickboxer übereilt von seinem Trainer trennt, obwohl eine Meisterschaft ansteht – seine platonische Mitbewohnerin ist drogensüchtig und muss einmal überdramatisch aus einer Drogenhöhle irgendwo in der Stadt befreit werden. Es gibt dann noch einen etwas lieblosen, kurzen Ausflug in die USA, wo Danny herkommt, einmal ist Foreigners „I Wanna Know What Love Is“ zu hören, so als bräuchte die romantische Annäherung auf der Tonspur noch einen Schubser. In diesen Momenten will der Film zuviel, und auch wenn dies eine wahre Geschichte ist, so hätte man sich als Zuschauer doch ein wenig mehr kinogerechtere Zurückhaltung und Schlichtheit gewünscht.
 
Die beiden Schauspieler machen nämlich ihre Sache gut, und besonders Luna Wedler füllt ihren Charakter mit einer Neugier und einem Erfahrungshunger aus, mit einer Lebensfreude und einer Intelligenz, die sie angesichts der Krankheit ihres Freundes früh erwachsen gemacht hat.
 
Michael Ranze