Nanouk

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In gewaltigen, ruhigen Bildern wird eine einfache Geschichte erzählt. Sie handelt vom Leben in der Eiswüste Jakutiens. Ein altes Ehepaar steht im Mittelpunkt, das immer noch den Ritualen seines Volkes verbunden ist. Doch ihre Welt verändert sich. Das Wissen um die Endlichkeit des Daseins als größte Herausforderung des Menschen: Den Untergang des Lebens mit und in der Natur hält Milko Lazarov in faszinierenden Cinemascope-Aufnahmen fest und schafft eine poetische Atmosphäre unwirklicher Schönheit. Seine Geschichte ist ein Märchen aus der Vergangenheit, das von der Realität der Gegenwart eingeholt wird. Das ist faszinierendes, ganz wunderbar kunstvolles Kino - wie geschaffen für die große Leinwand. Ein Traum von einem Film!

Webseite: www.neuevisionen.de

Originaltitel: Ága
Bulgarien/Deutschland/Frankreich 2018
Regie: Milko Lazarov
Drehbuch: Milko Lazarov, Simeon Ventsislavov
Darsteller: Mikhail Aprosimov, Feodosia Ivanova, Galina Tikhonova, Sergey Egorov, Afanasiy Kylaev
Länge: 96 Minuten
Verleih: Neue Visionen Filmverleih GmbH
Kinostart: 18. Oktober 2018

FILMKRITIK:

Nördlich des Polarkreises, mitten in der Eiswüste Jakutiens – eines Teils von Sibirien, der etwa so groß ist wie die Fläche der gesamten EU – leben Nanouk und Sedna. Ihre einzige Gesellschaft im Umkreis von vielen Kilometern ist Nanouks Schlittenhund, mit dem er von Zeit zu Zeit und meist vergeblich auf die Jagd geht. Nanouk macht sich Sorgen. Der Frühling kommt immer früher, aber es gibt weniger Fische, die er im Eis angeln kann, und kaum noch Rentiere oder Schneekaninchen. Und manchmal findet er tote Tiere, die offenbar an einer geheimnisvollen Krankheit verendet sind, die sich in schwarzen Flecken äußert. Sedna beruhigt ihn, doch tatsächlich verheimlicht sie ihrem Mann, dass sie selbst krank ist. Ihr wächst ebenfalls ein schwarzer Fleck. Obwohl sie sich mit Kräutern gut auskennt, kann sie sich nicht helfen. Die einzige Verbindung der beiden zur Außenwelt ist der junge Chena, der sie ab und zu besucht. Er hat Kontakt zu Ága, der Tochter des Paares, die aus unbekannten Gründen im Streit ihre Eltern verließ. Trotz aller Differenzen beschließt Nanouk, Ága wiederzusehen und macht sich auf den langen, beschwerlichen Weg in die Welt der Menschen.
 
Milko Lazarov erzählt in langen ruhigen Bildern, oft in der Totalen, die umso mehr die Verletzlichkeit und Bedeutungslosigkeit des Menschen inmitten einer feindlichen Natur deutlich werden lässt. Klein und einsam sind die Menschen, die hier jeden Tag buchstäblich ums Überleben kämpfen. Nanouk und sein Schlitten verlieren sich beinahe in der unendlichen Weite der arktischen Eistundra, wo der Wind aus Schnee und Eis merkwürdige Gebilde formt. Auch die Jurte ist nur ein winziger Punkt auf weißem Grund. Sedna und Nanouk leben hier nach der alten Tradition. Ihr kleines Batterieradio ist ein Luxusartikel. Wahrscheinlich sind sie die einzigen Menschen im weiten Umkreis, die noch Fallen aufstellen, Löcher zum Angeln ins Eis graben und bei Misserfolg von Trockenfisch leben müssen. Und auch die einzigen, die ihre Rituale bewahrt haben und die Geschichten ihrer Vorfahren. Sedna kennt die Geheimnisse der Schamanen, sie spielt die Maultrommel, und ihre Salbe hilft Nanouks kranken Beinen. Das Land, das sie umgibt, erscheint zwar extrem feindselig, aber es ernährt sie auch. Zumindest war das früher der Fall. Sie haben nichts als das, was ihnen die Natur gibt, und sie haben nur einander. Dieses alte Ehepaar braucht nicht viele Worte, um sich zu verstehen, in kleinen Gesten wird ihre Nähe umso deutlicher. Nachts liegen ihre Gesichter dicht beieinander. Sie halten zusammen, sind ein eingespieltes Team, ihren Tagesablauf bestimmt das Wetter. Früher hatten sie Rentiere, wird deutlich. Sie sind fort. Früher hatten sie eine Tochter. Auch sie ist gegangen – es gab Probleme, über die nicht gesprochen wird. Als Chena auf seinem Motorschlitten zu Besuch kommt, ist das eine willkommene Abwechslung. Sedna geht ein wenig aus sich heraus, man merkt, wie sie die Gesellschaft genießt. Gemeinsam hören sie klassische Musik im Radio. Aus Chenas Auge rollt eine einzelne Träne, und man weiß nicht, ob aus Mitleid mit den beiden alten Leuten oder aus Rührung. Vielleicht weiß Chena, dass dieses Dasein in der Wildnis im Untergang begriffen ist, so wie Nanouk vielleicht auch weiß, dass Sedna krank ist, ohne dass sie es sagt.
 
Nur sehr wenig wird erklärt: Show, don’t tell! Dieses grundlegende Prinzip der Erzähldramaturgie wird hier beinahe auf die Spitze getrieben. Manches wird durch die Bilder sehr schnell verständlich, manches bleibt unklar, was aber kein Manko ist, sondern die realistische Wirkung sogar noch verstärkt. Der Zuschauer nimmt dabei die Position eines Kindes ein, das ständig etwas Neues sieht und versucht, sich einen Reim darauf zu machen. So werden aus Bildern Erfahrungen, so fügen sich Erfahrungen zu Wissen. Milko Lazarov lässt sich dabei viel Zeit. Seine Bildsprache geht so weit, dass einzelne Einstellungen auffällig in die Länge gezogen werden und genau in der Millisekunde enden, bevor sie anstrengend werden. Meistens arbeitet er mit einer starren Kamera, der Mensch bewegt sich vor der Kamera, weniger die Kamera vor dem Menschen. Die grandiosen Naturbilder sind dabei alles andere als pompös, sie sind so machtvoll und gewaltig wie die Natur selbst, sogar Ehrfurcht gebietend, aber sie haben nichts Aufgesetztes oder Sensationsgieriges. Die wenigen Personen werden oft in extremen Nahaufnahmen gezeigt, die aus den Gesichtern Landschaften machen, mit Faltengebirgen und Augen, die zeigen, dass in dieser Landschaft Leben wohnt.
 
Die Stimmung des Films ist von Melancholie getragen, eher leise, und es gibt kaum Höhepunkte. Auch der Sturm, den Nanouk und Sedna gemeinsam bewältigen müssen, ist nur eine kurze Episode in einem langen Leben – es wird wohl nicht der einzige Schneesturm gewesen sein. Diese schwermütige Atmosphäre, die über dem Film liegt, gründet auf dem Wissen, dass Nanouks und Sednas Existenz so wie ihre Kultur und die Gattung Mensch an sich, dem Untergang geweiht ist. Dabei geht es weniger um den physischen Tod als um die allgemeine Endlichkeit des Lebens und der Natur. Schlechte Omen umgeben Nanouk und Sedna: tote Tiere, die Raben, die über der Jurte kreisen. Da ist nur wenig Hoffnung: Nanouk sieht gelegentlich ein geheimnisvolles Rentier, das er sich möglicherweise nur einbildet. Es scheint einen Weg zu weisen und damit nicht nur ihm, sondern allen Menschen, wie sie sich ihre Existenz auf der Erde erleichtern könnten.
 
Gaby Sikorski