78. Cannes Filmfestival 2025
Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz und Anne Wotschke
Irgendwie hat das diesjährige Festival in Cannes für uns keinen rechten Abschluss gefunden. Dabei haben wir so viele Filme gesehen wie nie, zu hochkarätig war das Programm, als dass man einen hätte weglassen können, ohne das Gefühl zu haben, Entscheidendes zu verpassen. So ging der Flieger zurück um 20 Uhr und es standen noch Kelly Reichardt, Ethan Coen und die Gebrüder Dardenne auf dem Programm. Deren neuen Film YOUNG MOTHERS konnten wir fast bis zum Ende anschauen, als plötzlich der Projektor anhielt und das Notlicht anging. Es dauerte einen Moment, bis aufgeregtes Personal in den Saal kam und von einem Stromausfall sprach. Nach 15 Minuten wurde der Saal aus Sicherheitsgründen geräumt, danach dann das ganze Kino, und während die Cineasten ungläubig vor dessen Türen standen, zeichnete sich ab, dass es für diese Festspiele auch nicht mehr öffnen würde. Glücklicherweise nahm das Festival selbst ein besseres Ende, das Grand Palais schaltete auf ein Notstromaggregat um und brachte alles zu einem guten Ende.
Die Preisverleihung konnte also in vollem Glamour über die Bühne gehen und einen Preisträger würdigen, der vielleicht nicht den besten Film vorgelegt, aber mit Sicherheit den höchsten Einsatz gewagt hatte. Gerade von allen Vorwürfen des iranischen Systems freigesprochen, hat Jafar Panahi wieder einen Film fertiggestellt und an den Zensurbehörden vorbei auf ein internationales Festival geschmuggelt. Bereits 2018 gewann er für DREI GESICHTER den Preis für das beste Drehbuch und nun wurde es die Goldene Palme.
Irgendwie hat man das Gefühl, Jafar Panahi habe all seine Filme im Auto gedreht, und tatsächlich, auch sein neuer Film IT WAS JUST AN ACCIDENT beginnt genau dort. Der Protagonist Vahid ist in düsterer Nacht mit Frau und Tochter auf dem Heimweg, als er einen streunenden Hund überfährt. Kurz danach bleibt er mit seinem Wagen liegen und findet glücklicherweise einen Anwohner, der eine kleine Werkstatt hat und ihm weiterhelfen kann. Als er diese Werkstatt betritt, um Werkzeug zu holen, fährt ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er erkennt den Kollegen seines Helfers, ohne ihn zu Gesicht zu bekommen. Das typische Klacken seiner Bein-Prothese hat ihn monatelang im Gefängnis begleitet und neues Leid und neue Folter angekündigt. Am nächsten Morgen lauert Vahid seinem Folterer auf und entführt ihn kurzerhand. Er will ihn lebendig begraben, doch ein Freund rät ihm, das nicht zu tun. Stattdessen sucht Vahid seine Mitgefangenen auf, die das gleiche Leid wie er erfahren haben. Sie alle erkennen ihren Peiniger wieder, obwohl sie ihn nie gesehen haben, da sie immer mit verbundenen Augen vor ihn treten mussten.
Es ist eine dieser typischen Parabeln, die Panahi hier inszeniert hat, wie wir sie aus vielen iranischen Filmen kennen. Auf der einen Seite steht der Terror eines menschenverachtenden Regimes und auf der anderen das hohe moralische Bewusstsein der Bevölkerung. So sind seine Protagonisten innerlich zerrissen zwischen ihrem Wunsch nach Rache und der Erkenntnis, dass ihr Folterknecht auch nur ein Opfer des Regimes ist und sein Bein im Krieg verloren hat. Neu ist für Panahi, der immer zu den gemäßigten Filmemachern des Irans zählte: Er nimmt kein Blatt mehr vor den Mund und greift die politischen Verhältnisse direkt an. Bei der Ehrung mit der Goldenen Palme forderte er seine Landsleute auf, für ein Land zu kämpfen, das ihnen nicht vorschreibt, welche Kleidung sie tragen dürfen, das ihnen nicht vorschreibt was zu tun ist und den Filmemachern nicht vorschreibt, welchen Film sie machen dürfe und welchen nicht. Ausgesprochen mutig, bedenkt man das Panahi erst letztes Jahr nach seinem Hungerstreik aus dem Gefängnis entlassen worden ist und danach Hausarrest, Berufsverbot und Reiseverbot aufgehoben wurden, so dass er endlich einmal wieder in persona an einem internationalen Filmfestival teilnehmen konnte.
Der für uns stärkste Film gewann immerhin den Grand Prix des Festivals: Joachim Trier, der hier schon vor vier Jahren mit DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT für Aufsehen sorgte, legte mit SENTIMENTAL VALUE (Plaion) ein intensives Familiendrama in Bergman’scher Tradition vor, wieder mit Renate Reinsve in der Hauptrolle. Im Mittelpunkt steht eine gutbürgerliche Familienvilla in Oslo, in der schon viele Generationen der hier beschriebenen Familie gelebt haben. Gustav (Stellan Skarsgard) ist hier aufgewachsen, nach dem Selbstmord seiner Mutter hat er es verlassen, wie auch seine Frau und die beiden Töchter, und wurde zu einem bekannten Filmregisseur. Viele Jahre später kehrt er zum Tod seiner Frau wieder zurück in sein Geburtshaus und findet mit seinen Töchtern Nora und Agnes zwei schmucke, vielleicht etwas schüchterne Frauen vor, die unterschiedliche Wege gegangen sind. Agnes hat eine Familie gegründet, während Nora am hiesigen Theater spielt. Doch über allem liegt eine Art Schleier von Depression. Gustav will nicht kondolieren, sondern sieht die Zeit gekommen, wieder Anschluss zu seinen Töchtern zu suchen, insbesondere zu Agnes, der er ein Drehbuch auf den Leib geschrieben hat, das er nun mit ihr verfilmen will. Doch so einfach ist das nicht, hat er doch seine Töchter mit seiner jahrelangen Abwesenheit schwer verletzt. Bevor man sich wieder einander annähern kann, wäre vielleicht erstmal eine Entschuldigung fällig gewesen. Es dauert den ganzen Film, bis klar wird, dass diese Entschuldigung in Form des Drehbuches die ganze Zeit auf dem Tisch liegt, nur niemand will es lesen. Als es Agnes am Ende dann doch tut, wird klar, dass es bestimmte Dinge gibt, die man nicht in Worte fassen kann, aber Kunst, Film und Literatur sind eine Möglichkeit, sie auszudrücken.
Der Jury-Preis ging ex aequo an zwei ausgesprochen ungewöhnliche Filme, die zeigen, dass das Kino sich ständig weiterentwickelt und immer wieder neue Erzählformen erfindet. So entfernt sich der katalanische Regisseur Oliver Laxe, der schon zweimal mit MIMOSAS und FIRE WILL COME in Cannes dabei war, weit vom klassischen Erzählkino und nimmt uns in SIRAT (Pandora) mit auf eine emotionale Reise in die marokkanische Wüste. Hier findet ein gigantischer Party-Rave statt, zu dem Hunderte mit Unimogs angereist sind. Auch den Familienvater Luis (Sergi López) hat es hierher verschlagen, nicht wegen der Musik, sondern weil er hofft, hier seine Tochter, die von zuhause ausgebüchst ist, wiederzufinden. Doch die große Party, bei der ordentlich Drogen konsumiert werden, wird vom Militär aufgelöst. Der Vater schließt sich den Veranstaltern an, die ihm bei der Suche nach seiner Tochter helfen wollen, doch der Wüstentrip wird zu einem Alptraum, der Züge eines Horrorfilms annimmt. Dabei erzählt Laxe keine wirkliche Geschichte, sondern lässt uns auf dem dünnen Handlungsfaden zu einem irren Soundtrack durch die Wüste raven. Eine ganz eigene Erfahrung.
Eine eigene Bildsprache hat auch Mascha Schilinski (DIE TOCHTER) entwickelt für ihren zweiten Film IN DIE SONNE SCHAUEN (Neue Visionen), dem der internationale Titel SOUND OF FALLING viel näher kommt. Für das Drehbuch hat sie bereits im letzten Jahr zusammen mit ihrer Co-Autorin Louise Peter den Thomas Strittmatter Preis gewonnen.
Sie inszeniert jeweils kurze Episoden, die sich nicht gleich erschließen, spielen sie doch zu unterschiedlichen Zeiten, mit unterschiedlichen Protagonisten. Lediglich der Ort, ein Bauernhof in der Altmark, bleibt gleich. Hier erzählen vier junge Mädchen aus unterschiedlichen Jahrzehnten (1910er-, 1940er-, 1980er und 2020er-Jahre) vom Leben auf dem Hof, den Traditionen, den Kriegen und ihrem Leid als Frau. Wir sehen die Frauen älter werden und ihre Perspektive verändert sich, wie auch die zeitlichen Ebenen sich immer mehr überlappen, bis sie sich am Ende vollends auflösen. Damit verleiht Schilinski ihrem Film eine gewisse Zeitlosigkeit und Allgemeingültigkeit. Ihre Geschichten drehen sich um Traumata, die Menschen erleben, und wie sie in kommenden Generationen weiterwirken. Bei den Frauen geht es dabei meist um Missbrauch, sie ertränken sich in der Elbe, als die russische Armee vorrückt, werden als Mägde vom Gutsherren missbraucht und, wenn sie nicht mehr von Nutzen sind, weiterverkauft. Die Männer hingegen verstümmeln sich selbst, um nicht in den Krieg eingezogen zu werden. Die Kinder haben dies alles aufgesogen, üben spielerisch in der Elbe das Ertrinken oder liegen schon einmal in einem Sarg zur Probe.
Das alles ist ziemlich düster und über zweieinhalb Stunden sicherlich auch anstrengend, zieht einen aber auch in seinen Bann und schildert eindrucksvoll das deutsche Landleben über einen Zeitraum von hundert Jahren. Das erinnert ein wenig an Michael Hanekes DAS WEISSE BAND, der seinerzeit auch hier in Cannes entdeckt wurde, bevor er seinen Siegeszug antrat.
Für die beste Regie ausgezeichnet wurde der ehemalige brasilianische Filmkritiker Kleber Mendonça Filho, der schon zum dritten Mal in Cannes dabei war und 2019 den Jury-Preis für BACURAU gewonnen hat. Sein neuer Film THE SECRET AGENT (Port au Prince) wurde von der Berliner One Two Films koproduziert und spielt in seiner Heimatstadt Recife, zu Zeiten der Militärdiktatur, wie zuletzt Walter Salles FÜR IMMER HIER, der auf der Berlinale zu sehen war. Hierhin kehrt sein Protagonist zurück, gespielt vom international bekannten Schauspieler Wagner Moura, der als Bester Darsteller geehrt wurde. Er will seinen Sohn wiedersehen, den Tod seiner Mutter aufklären und seiner gewalttätigen Vergangenheit entkommen. Doch schon vor den Toren der Stadt wird ihm klar, dass er vom Regen in die Traufe gerät. Auf dem Vorhof einer Tankstelle liegt eine Leiche, für die sich wohl nur ein paar Geier interessieren. Der Tankwart hat sie provisorisch abgedeckt und schon vor Tagen die Polizei informiert. Als die endlich eintrifft, interessieren sich die Beamten nur für den Neuankömmling und knöpfen ihm ein wenig Schutzgeld ab. Filho bleibt seinen verstörenden Bildern treu, beispielsweise als auf dem Seziertisch in der Pathologie ein riesiger Hai aufgeschlitzt wird, um das Bein eines Mannes ans Tageslicht zu bringen. Mit solchen Bildern schafft er es, uns die damaligen Zeiten nicht nur vorzuführen, sondern uns in sie geradezu zurückzuversetzen. Er inszeniert einen packenden Thriller in einem Moloch aus Korruption und Gewalt. Angesichts hunderter Todes- und Entführungsopfer zählt ein Menschenleben hier nicht viel, und Filho entlarvt hier ein System, das den Reichen nützt und die Armen in Schach hält.
Das beste Drehbuch ging einmal wieder an die Brüder Dardenne, die mit YOUNG MOTHERS zum zehnten Mal am Festival teilnahmen und immer noch auf ihre dritte Goldene Palme warten. Ihr neuer Film erzählt zwar nicht wirkliches etwas Neues, liefert aber genau das, was man erwarten durfte: gesellschaftspolitisches Sozialkino. Er spielt wieder in Lüttich, diesmal in einem Mutter-Kind-Heim, wo fünf junge Frauen, die in prekären Verhältnissen leben, von ihren Herausforderungen und Hoffnungen erzählen. Ursprünglich wollten sie die Geschichte einer jeden Frau einzeln erzählen, was aber den Rahmen des Films gesprengt hätte, wie das Regie-Duo auf der Pressekonferenz erklärte. Stattdessen fügten sie die einzelnen Geschichten so zusammen, dass sie nahtlos ein Gesamtbild ergeben, balancieren Verzweiflung mit Momenten aus, die vorsichtig auf eine stabilere Zukunft hinweisen. Dabei treffen die jungen Schauspielerinnen stets den richtigen Ton, so dass die Authentizität des Films nicht unter der aufgestülpten Dramaturgie leidet. Im Gegenteil, den Dardennes gelingt es einmal wieder, auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen und uns dabei emotional zu berühren.
Als Beste Darstellerin wurde Nadia Melliti ausgezeichnet, die in DIE JÜNGSTE TOCHTER (Alamode), dem neuen Film von Hafsia Herzi (die als Schauspielerin mit COUSCOUS UND FISCH bekannt wurde) die 17-jährige Fatima spielt, die zusammen mit ihrer Mutter und den beiden Schwestern in einer liebevollen französisch-algerischen Einwanderer-Familie in der Banlieu von Paris lebt. Fatima ist das Nesthäkchen und der Stolz ihrer Mutter, hat sie doch gerade ein Studium in Paris begonnen. Vorsichtig tastet sie sich heran an die neue Freiheit, schließt Freundschaften und erlebt bald ihr sexuelles Erwachen mit einer Kommilitonin. Doch die erste Nacht war wohl so intensiv, dass sich die beiden Frauen gleich wieder trennen. Ihre Freundin will keinen Kontakt mehr. Allein gelassen mit ihren Gefühlen und dem Problem als Tochter algerischer Einwanderer lesbisch zu sein, stürzt sie sich in das Pariser Nachtleben ohne zu finden, was sie eigentlich sucht. Ihr Leiden ist ihrer Mutter nicht entgangen, liebevoll bietet sie sich ihr immer wieder als Kummerkasten an, um ihr im Spannungsfeld zwischen islamischem Glauben und homosexueller Liebe einen Weg zu weisen. Gäbe es einen Preis für die beste Nebenrolle, hätte ihn die Darstellerin der Mutter bekommen müssen, die mit ihrer Wärme und Ausstrahlung nicht nur ihre Familie, sondern gleich den ganzen Film zusammenhält.
Dass wir alle Preisträger sehen konnten, hat es auch noch nicht gegeben und so konnten wir doch noch mit dem Festival abschließen, als wir die Preisverleihung zuhause im Festivalstream schauen konnten. Die Entscheidungen der internationalen Jury unter Vorsitz von Juliette Binoche stießen im Wesentlichen auf Zustimmung, auch wenn sie sich mehr an künstlerischen Werten orientiert haben, als am Publikumsgeschmack. So können wir im Folgenden noch von vielen Filmen berichten, die nicht nur eine außerordentliche Qualität, sondern auch Zugkraft beim Publikum haben sollten.
So zum Beispiel NOUVELLE VAGUE (Plaion) von Richard Linklater, der gerade in Berlin mit BLUE MOON einen Silbernen Bär gewonnen hat und in Cannes gleich seinen nächsten Film vorstellte, der schnell zum Publikumsliebling avancierte. In Schwarzweiß und Normalformat gedreht, erzählt er in seiner unterhaltenden Art aus der Gründerzeit der Nouvelle Vague, anhand der Dreharbeiten zu Jean Luc Godards AUSSER ATEM, einem der Geburtsfilme dieses Genres. Mit viel Leichtigkeit und Humor versucht er, die Aufbruchstimmung dieser Jahre einzufangen und dem Enfant Terrible Godard näherzukommen.
Es ist Linklaters erster komplett in französischer Sprache gedrehter Film, was auf der Pressekonferenz die Frage aufwarf, ob er von Trumps Zöllen betroffen sei: “Ich glaube wirklich nicht, dass wir darüber reden müssen”, winkte er ab und fuhr fort: “Der Typ ändert dreimal am Tag seine Meinung. Da hört eh keiner mehr hin.”
In Frankreich erfüllte sein Film die naturgemäß hohen Erwartungen, indem er die Geschichte aus dem Bauch heraus erzählte und so der notorischen Kopflastigkeit dieses Genres eine gehörige Portion Spass entgegengesetzte. Mit dem noch unbekannten Guillaume Marbeck hat er einen kongenialen Schauspieler für die Darstellung von Jean-Luc Godard gefunden. Er trifft ihn in Habitus, Gestik und Stimme und das Gesicht kann man eh nicht erkennen, weil er – wie Godard es damals wirklich tat – den ganzen Tag mit Sonnenbrille rumläuft. Getoppt wird diese Performance noch von Aubry Dullin, der dem jungen Belmondo so ähnlich sieht, dass man meint, den Leibhaftigen vor sich zu haben. Darüber hinaus treten noch viele Gesichter dieser Zeit auf: Jean Seberg (Zoey Deutch), François Truffaut, Eric Rohmer und der Produzent Georges de Beauregard, um nur einige zu nennen. Man muss sie nicht alle kennen, um von der damaligen Aufbruchstimmung mitgerissen zu werden. Das kann nur noch von der Revision des Original-Films AUßER ATEM getoppt werden.
Gespannt waren wir auch auf den neuen Film des südafrikanischen Regisseurs Oliver Hermanus, der zuletzt mit dem Apartheids-Drama MOFFIE (2019) und dem wunderbaren LIVING (2022) mit Bill Nighy als Londoner Bürokraten auf sich aufmerksam machen konnte. In seinem neuen Film THE HISTORY OF SOUND (UPI), der auf Ben Shattucks Kurzgeschichte basiert, spielen Josh O’Connor und Paul Mescal zwei junge Männer, die 1919 nach ihrem Studium gemeinsam Neuengland zu Fuß bereisen und hunderte von Kilometern zurücklegen, um die Balladen und Volkslieder der ländlichen Bevölkerung aufzunehmen und für die Nachwelt zu erhalten. Die für damalige Zeiten ungewöhnliche Expedition der beiden Musiker trägt nicht nur reiche Früchte, sondern sie kommen sich auch persönlich näher, sodass am Ende die Frage steht, ob sie zusammenbleiben oder getrennte Wege gehen. Vielleicht aus gesellschaftlichen Gründen gehen beide ihren eigenen Weg. Obwohl sie Karriere machen und einer von beiden es über Rom bis zum Professor in Oxford bringt, will sich dieses Glücksgefühl jener Tage der Exkursion nie wieder einstellen. Der Tod seiner Mutter ist dann für den Oxford-Professor ein guter Grund, wieder nach Amerika zu reisen und nach seiner Jugendliebe zu suchen.
Oliver Hermanus erzählt sehr langsam und detailverliebt und erreicht dabei eine beeindruckende emotionale Dichte, die manchmal an BROKEBACK MOUNTAIN erinnert.
Er schwelgt in einer sehenswerten Ausstattung mit einzigartigen Bildern eines ländlichen Amerikas, vom prunkvollen Rom in den 40er Jahren und von einem aristokratischen London, und dennoch können seine Protagonisten nicht glücklich werden, nur weil sie einmal in ihrem Leben falsch abgebogen sind.
Nach HEREDITARY und BEAU IS AFRAID wurde Ari Aster mit EDDINGTON (Leonine) endlich einmal zu einem A-Festival eingeladen. Joaquin Phoenix spielt hier den Sheriff des fiktiven Städtchens Eddington, das in Neu Mexiko liegen könnte. Es ist die Corona-Zeit, und er muss trotz seines Asthmas Maske tragen. Aber auch zuhause steht alles Kopf, seine Schwiegermutter (Deirdre O’Connell) ist zu ihm gezogen und textet ihn mit immer neuen Verschwörungstheorien zu, während seine depressive Frau (Emma Stone) damit liebäugelt, sich einem gegen die pädophilen Geheimbünde wetternden Prediger (Austin Butler) anzuschließen. Doch auch in der Stadt liegen die Nerven blank. Der Bürgermeister (Pedro Pascal) kämpft gerade um seine Wiederwahl und muss sich dabei aber einer undurchsichtigen Black-Lives-Matter-Bewegung und einer unter falscher Flagge agierenden Antifa-Terror-Gruppe erwehren, obwohl er selbst keine weiße Weste hat. Das bringt den Sheriff auf den Plan, selbst zu kandidieren. Er will den Kampf mit allen antidemokratischen Kräften aufnehmen, was in der zweiten Hälfte des Films zu einer recht blutigen Sache wird.
Aster inszeniert assoziativ und gewohnt durchgeknallt und rutscht am Ende ins Splatter-Genre ab. In seiner Corona-Farce scheinen alle den Verstand verloren und nicht wiedergefunden zu haben. Sein Film ist wie ein Albtraum, aus dem man erschrocken erwacht und der dennoch nicht zu Ende ist. Irgendwie passt dieses Bild zu der Post-Corona-Zeit, die wir gerade erleben, auch wenn man das logisch nicht richtig erklären kann.
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Quasi in der letzten Minute ist Lynne Ramsays Horrorkomödie DIE MY LOVE (Mubi) doch noch fertig geworden und wurde flugs nachnominiert. Jennifer Lawrence und Robert Pattinson spielen Grace und Jackson, ein New Yorker Ehepaar, das zurück in die amerikanische Provinz kommt, weil Jackson hier ein großes, heruntergekommenes Haus von seinem Onkel geerbt hat und Grace ihr erstes Kind hier austragen will. Seine Eltern wohnen direkt um die Ecke, sie werden von Sissy Spacek und Nick Nolte gespielt. Grace übersteht den Umzug nicht so gut. Sie, das Stadtkind, wurde in die Weiten des ländlichen Amerikas verpflanzt, wo Ehe, Mutterschaft und Häuslichkeit sie bedrängen und an ihrem Verstand nagen. Spätestens mit der Geburt ihres Sohnes läuft etwas schief in dieser jungen Familie. Zwischen postnataler Depression und animalischen Bedürfnissen sexueller Art verändert sich Graces Charakter zunehmend: sie wird immer unberechenbarer und nimmt keine Hilfe an. Jackson versucht mit ihr zu reden, stellt ihr mögliche neue Freunde vor und bringt schließlich einen Hund mit nach Hause. Doch alles endet in einer Katastrophe, denn Graces Zustand ist inzwischen von Gewaltbereitschaft und Zerstörungswut geprägt.
Es ist wohl eine Art psychosexueller Zusammenbruch, den Ramsay hier verfilmt hat. Die schottische Filmemacherin nutzt nicht nur die unendlichen geografischen Weiten der amerikanischen Prärie, sondern dehnt ihr Horror-Psychogramm auch zeitlich aus, während ihre Bilder im Schmalfilm-Format (4:3) und Schwarzweiss daherkommen und im Widerspruch zu den ausufernden Episoden stehen. Diese führen häufig ins Leere und verweigern sich oft einer schlüssigen Interpretation, was den Zuschauer beeindruckt und gleichzeitig unbefriedigt und ratlos zurücklässt.
Nach IN DER NACHT DES 12., der 2022 in der Nebenreihe ‘Cannes Premières’ lief und im Anschluss sechs Césars gewann, in Deutschland aber bei den Zuschauerzahlen vierstellig blieb, durfte Dominik Moll seinen neuen Film DOSSIER 137 im Wettbewerb vorstellen. Léa Drucker spielt Stéphanie, eine Polizistin, die in den eigenen Reihen ermittelt, gerade am Fall 137 eines jungen Demonstranten, der von einem Dum-Dum-Geschoss am Kopf getroffen wurde und nicht vernehmungsfähig im Krankenhaus liegt. Obwohl es angeblich keine Zeugen gab und die Body-Cam der Polizisten ausgeschaltet war, nimmt sie die Ermittlungen auf und kann den Polizisten einige Regelübertretungen nachweisen, ohne sie aber konkret anklagen zu können. Dabei sitzt sie zwischen allen Stühlen, ihre Kollegen halten sie für eine Nestbeschmutzerin und die Opfer, denen sie eigentlich helfen will, trauen ihr nicht über den Weg. Trotzdem ermittelt sie weiter und verbeißt sich derart in den Fall, dass sie am Ende tatsächlich brisantes Material vorlegen kann. Doch die Aufklärung sorgt nicht für Recht und Gerechtigkeit, sondern ruft nur ihre Vorgesetzten auf den Plan, die nun Mühe haben, alles wieder unter den Teppich zu kehren. Was als spannender Krimi beginnt, nimmt plötzlich eine Wendung zu einem Politthriller gesellschaftspolitischen Ausmaßes, der am Ende die Frage im Raum stehen lässt, wofür solche polizei-internen Untersuchungen überhaupt gut sind, wenn man mit ihren Ergebnissen ohnehin nicht umgehen kann.
Seichte Unterhaltung bot dagegen der Eröffnungsfilm PARTIR UN JOUR (Leave one Day) der von einer Sterne-Köchin erzählt, die gerade in Paris ihr erstes Restaurant eröffnen will, als ihr Vater einen Herzinfarkt erleidet und sie zu einem Zwangsurlaub im Heimatdorf zwingt. Die Begegnung mit den Eltern und Freunden ihrer Jugend, fernab vom täglichen Stress in Paris, lassen sie Abstand gewinnen und klarer erkennen, wie es mit ihrem eigenen Leben weitergehen sollte.
Mit Amélie Bonnin eröffnete erstmals eine Regie-Debütantin das Festival, ein unbeschriebenes Blatt ist sie dennoch nicht, hat sie doch mit ihrem Kurzfilm „Raus aus der Provinz“ einen Oscar gewonnen. Die gelegentliche Fernsehhaftigkeit ihres Films gleicht sie mit Charme aus und stellt am Ende die richtigen Fragen. Auch wenn diese recht ernster Natur sind, verliert der Film nie seine Leichtigkeit.
In seinem zwölften Film FUORI entführt uns Mario Martone ins Rom der sechziger Jahre und erzählt die Geschichte der italienischen Schauspielerin und Schriftstellerin Goliarda Sapienza, gespielt von Valeria Golino, die als Regisseurin gerade Sapienzas Roman „The Art of Joy“ als Serie adaptiert hat. Doch die Erfolgsgeschichte dieses Romans ist etwas holprig, sie brauchte neun Jahre, um ihn zu schreiben, und dann fand sie niemanden, der das ausgesprochen provokante, 700 Seiten lange Mammutwerk verlegen wollte. In der Folge verarmte Goliarda, so dass sie sich mit Diebstählen über Wasser halten musste, was sie letztlich ins Frauengefängnis Rebibbia brachte. Doch die Knasterfahrung wurde für sie zu einer einmaligen Recherchemöglichkeit. Sie freundete sich schnell mit ihren Zellen-Genossinnen an, gewann ihr Vertrauen und verarbeitete ihre Geschichten in einem Bericht über ihre Zeit im Gefängnis, der 1983 unter dem Titel „L’Università di Rebibbia“ veröffentlicht wurde und ein kleiner kommerzieller Erfolg wurde. “Es war die einzige gewaltfreie Zeit in meinem Leben”, sagte sie einmal provokant in einer Fernsehshow und wies darauf hin, dass einer Frau außerhalb des Gefängnisses beinahe täglich Gewalt widerfährt. Wieder in Freiheit hielt sie Kontakt zu ihren Knastschwestern, bei denen sie sich aufgehobener fühlte als unter den italienischen Intellektuellen aus Literatur, Film und Fernsehen, zu denen sie viele Kontakte hatte.
Martone erzählt diese beeindruckende Geschichte einer Frau, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Italien ihren Weg ging, ohne irgendwelche Kompromisse zu machen, aus der Perspektive Goliardas. Und obwohl er nicht verschweigt, dass ihr dabei oft übel mitgespielt wurde, gelingt es ihm, die hoffnungsvolle Stimmung des Films stets aufrechtzuerhalten. Mit viel Einfühlungsvermögen und Wärme gelingt es ihm, ein sympathisches Bild dieser einzigartigen Frau zu zeichnen, deren Meisterstück “Die Kunst der Freude” nach ihrem Tod doch noch verlegt wurde und im europäischen Ausland zu einem großen Erfolg wurde.
Cannes Dauergast Sergei Loznitsa hat mit ZWEI STAATSANWÄLTE (Progress) den gleichnamigen Roman Georgi Demidows verfilmt, der hier seine eigenen Erfahrungen mit den Auswüchsen des Stalinismus der 1930er Jahre verarbeitet hat. Die deutsche Koproduktion erzählt von einem jungen Staatsanwalt, der voller Idealismus die Verteidigung eines zu Unrecht verurteilten Häftlings antreten will und feststellen muss, dass dieses System kein Interesse an Wahrheit und Gerechtigkeit hat, sondern jeden mit Willkür, erpressten Geständnissen und Denunziationen im Gulag verschwinden lassen kann.
Der in der Ukraine und Russland aufgewachsene und inzwischen in Deutschland lebende Losnitza erzählt seine Geschichte in Form von Gesprächen, die der junge Staatsanwalt unter anderem mit dem Gefängnisdirektor, dem Häftling – zu dem er nur unter absurden Sicherheitsbedingungen gelassen wird – und einem Kriegsveteranen im Zug führt. So entsteht ein Kammerspiel historischen Ausmaßes, das immer wieder Bezüge zur heutigen Zeit erkennen lässt und gelegentlich kafkaeske Züge trägt, am Ende für einen Kinofilm aber etwas zu wortlastig daherkommt.
Kirill Serebrennikov ist Dauergast in Cannes. Seine Filme behandeln oft historisch relevante Themen, sind aber häufig zu komplex und überfrachtet, als dass sie eine Zugkraft beim Publikum entfachen könnten. Mit LETO gelang ihm 2018 der internationale Durchbruch und auch ein Publikumserfolg, LIMONOV und PETROV’S FLU waren komplexe Meisterwerke und MADAME TSCHAIKOWSKY, seine recht schwache Abrechnung mit Putin, sie alle floppten an der Kinokasse. Inzwischen lebt und arbeitet der in Russland geborene Dissident in Berlin und hat sich nun mit DAS VERSCHWINDEN DES JOSEF MENGELE (DCM) einem urdeutschen Thema angenommen: dem Biopic von Josef Mengele, dem Todesengel von Auschwitz. Dabei konzentriert er sich auf die Zeit nach dem Krieg, wo der Sohn eines herrschsüchtigen Fabrikanten, aufgrund seiner Taten und der anstehenden juristischen Aufarbeitung, nach Südamerika flieht. Völlig unnötig, wie sein Vater meint, dessen Firma im ostdeutschen Günzburg fast jeden Bürger beschäftigt. “Sicherer als hier bist du nirgendwo auf der Welt“, meint er und finanziert dennoch seine Flucht nach Südamerika, wo er zunächst in Paraguay untertaucht und später nach Brasilien flieht.
Serebrennikov inszeniert Mengeles Flucht und Zeit im Exil, als Paranoia in schwarzweißen Bildern mit Anklängen an den ‘film noir’. Der Nazi-Täter wird in seinem Film zum Flucht-Opfer, das in seinem Leben keine ruhige Minute mehr haben wird. Nur noch einmal zeigt er Stärke. Als ihn sein inzwischen erwachsener Sohn besucht und mit seinen Gräueltaten konfrontiert, zeigt er keine Gewissensbisse, sondern eine Unbeirrbarkeit und Sturheit, die einem angesichts aktueller Diskussionen geradezu Angst macht. Serebrennikovs Porträt des Massenmörders ist aus deutscher Sicht sicherlich kritisch zu sehen, aber als Russe hat er vielleicht das Recht andere Schwerpunkte zu setzen. Seine Inszenierung ist mal wieder überbordend und macht aus dem Porträt eines Massenmörders eine überladene Operninszenierung.
Ebenfalls eine deutsche Koproduktion ist ROMERIA (Piffl), der neue Film der Spanierin Carla Simón, die 2022 mit dem Familiendrama ALCARRÀS den Goldenen Bären in Berlin erringen konnte. Dem Thema Familie ist sie auch in diesem Film treu geblieben, nur dass die Hauptdarstellerin die 19-jährige Marine ihre Eltern gar nicht kennt. Um sich an der Uni einschreiben zu können, braucht sie eine Geburtsurkunde, die sie nicht hat. Also reist sie von Barcelona nach Vigo, wo die Familie ihres verstorbenen Vaters lebt, um eine notarielle Bescheinigung für ein Vaterschaftszertifikat aufzutreiben. In Vigo angekommen, lernt sie ihre große Familie kennen, Onkel und Tanten nehmen sie ebenso wie die vielen Cousins und Cousinen überschwänglich auf und überschütten sie geradezu mit Geschichten über ihre Eltern. Nur ihre Großeltern, die sie braucht, um an das gewünschte Zertifikat zu kommen, halten sich zurück, da sie noch nicht entschieden haben, ob sie ihrer lebensfrohen Enkelin helfen oder weiter das Familiengeheimnis bewahren wollen.
Carla Simóns Film trägt auch autobiografische Züge, jedenfalls hat ihre Mutter diese Geschichte so oder so ähnlich erlebt. Das Drehbuch basiert auf ihren Tagebüchern, aus denen Marine gelegentlich im Film vorliest, während dokumentarische Original-Filmaufnahmen aus dem Familienarchiv über die Leinwand flackern. So entsteht ein lebhaftes Porträt ihrer Familie und des Hafenstädtchens Vigo in den 1980er Jahren, während der Film mit erstaunlicher Offenheit eine tragische Familiengeschichte aus der post-Franco-Ära zwischen Heroin-Krise und Aids-Epidemie erzählt.
In der ‘Un Certain Regard‘ war Anna Cazenave Cambets LOVE ME TENDER zu sehen, der auf der Novelle von Constance Debré basiert und in dem Vicky Krieps die Hauptrolle der Clemence spielt. Als die eines Tages ihrem Mann offenbart, dass sie sich öfter mit Frauen trifft, reicht er Klage ein, um ihr das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn zu entziehen. Fortan darf Clemence ihr Kind nur noch unter staatlicher Aufsicht treffen. Sie sitzen dann in einem Besprechungsraum und zwei Beamtinnen führen Protokoll über ihre Begegnung. Obwohl sich Mutter und Sohn sehr zugetan sind, werden alle Einsprüche gegen den Entzug des Sorgerechts abgelehnt oder verschoben. Immerhin darf Clemence inzwischen ab und zu einmal einen ganzen Tag mit ihrem Sohn verbringen, doch ihr Ex-Mann cancelt und verschiebt die Termine nach Belieben. Zwischenzeitlich wird der Sohn immer älter, leidet darunter, dass sein Vater ihn stets gegen die Mutter aufwiegelt und empfindet das Theater, was seine Eltern da aufführen, zunehmend als Schikane, der er sich am liebsten entzieht. Einmal erklärt ein Richter Clemence, dass solche Sorgerechtsprozesse lange dauern, oft länger als die Kindheit der Betroffenen.
Cazenave Cambet inszeniert diesen Fall minutiös nach, zeigt den zunehmenden Frust der Mutter, wonach sie sich oft in immer neue Beziehungen mit anderen Frauen stürzt, zeigt aber auch die Leiden des Kindes, dessen Wohl die gesetzlichen Vorschriften wohl kaum gerecht werden. Etwas holzschnittartig dagegen der Vater, als Ekel, der seine Ex-Frau aus Eifersucht oder was auch immer auf Kosten seines Sohnes kaltstellt.
Dem Film fehlt es an emotionaler Tiefe, zu sehr verliert er sich in Fakten und Details, als dass die menschlichen Dimensionen dieser Katastrophe in den Vordergrund drängen. Dazu passt auch Vicky Krieps unterkühltes Spiel, das dem Film eine gewisse Kälte verleiht und den Schwerpunkt mehr auf Frauenrechte legt als auf das Kindeswohl.
Entfernt an Roy Anderson erinnert der neue Film des Isländers Hlynur Pálmason THE LOVE THAT REMAINS (Plaion). Es ist sein dritter Film, GODLAND wurde 2022 in der Reihe „Un Certain Regard“ gezeigt, der ein Jahr im Leben einer Familie auf dem Land zeigt. Vor dem Hintergrund der wandelnden Jahreszeiten seziert der Film die bittersüße Essenz verblasster Liebe und die Komplexität menschlicher Beziehungen anhand der Trennung der Eltern. Der Vater arbeitet inzwischen als Fischer auf einem Fabrik-Boot, während die Mutter neben allerhand landwirtschaftlichen Tätigkeiten, sich als Künstlerin versucht. Das Familienleben wird mit vielen Tableaus beschrieben, auf die der Film immer wieder zurückkommt, sie variiert und weiterentwickelt. Dabei werden die einzelnen Szenen mit der Zeit immer skurriler und dennoch nutzt sich diese Erzählweise schnell ab und langweilt zunehmend.
Highlights des Programms dieser Nebenreihe waren aber die Regiedebüts zweier Schauspielerinnen von Weltrang. Scarlett Johansson überzeugte in ELEANOR THE GREAT (Sony) als versierte Regisseurin und erzählt eher konventionell die Geschichte einer 94-jährigen Frau. June Squibb spielt Eleanor Morgenstein, die nach dem plötzlichen Tod ihrer besten Freundin und Holocaust-Überlebenden Bessie gezwungen ist, bei ihrer Tochter in New York unterzukommen. Der ist ziemlich klar, dass ihre Mutter anstrengend sein kann und dass sie als alleinerziehende Mutter und Berufstätige nicht die Zeit hat, sie zu betreuen, weshalb sie ihre Mutter schon mal zum Gesangskurs bei der jüdischen Gemeinde angemeldet hat. Doch Eleanor landet in einer Selbsthilfegruppe von Holocaust-Überlebenden. Da sie hier warmherzig aufgenommen wird, erzählt sie ihnen die Geschichten, die sie von ihrer alten Freundin Bessie kennt und gibt sie als ihre eigenen aus. Doch bevor der Schwindel auffliegt, verbreitet er sich wie ein Buschfeuer und ist kaum mehr einzufangen.
Johannsen erzählt die durchaus heikle Geschichte dank eines perfekten Drehbuches von
von Tory Kamen mit viel Einfühlungsvermögen und Anteilnahme, sie umschifft elegant die vielen Untiefen, die dieses Thema bereithält. So zeigt sie den Holocaustopfern den gebührenden Respekt, und auch wenn es um Alter, Einsamkeit und Trauer geht, gelingt ihr dank des lebhaft sympathischen Spiels von June Squibb eine Leichtigkeit, die für dieses Genre nicht gerade typisch ist. So macht ELEANOR THE GREAT Mut, das Leben bis zum letzten Moment auszukosten und sich von niemandem daran hindern zu lassen.
Beeindruckend war auch Kristen Stewarts Film THE CHRONOLOGY OF WATER nach den Memoiren der Amerikanerin Lidia Yuknavitch, die zunächst als Leistungsschwimmerin und dann als Schriftstellerin bekannt wurde. Dabei half ihr Ken Kesey, der “Einer flog über das Kuckucksnest” geschrieben hat und von Jim Belushi gespielt wird. Durch das Schreiben konnte sie ihre durch jahrelangen familiären Missbrauch verursachte Alkohol- und Drogensucht überwinden. Zuweilen erinnert der Film thematisch, aber auch formal an Nora Fingscheidts THE OUTRUN. Stewart setzt nicht auf lineares Erzählen, sondern springt immer wieder in den Bewusstseinsstrom der Protagonistin (beeindruckend verkörpert von Imogen Pooth). Ihr Werk ähnelt einem sich aus vielen Fragmenten und Erinnerungsfetzen zusammensetzendes Puzzle. Eigenwillig wechselt sie die erzählerischen Mittel, um den schwierigen Prozess einer Traumabewältigung adäquat zu vermitteln und dem Geist der Vorlage gerecht zu werden. Kristen Stewart erweist sich hier als vielversprechendes Regie-Talent und wir freuen uns schon auf einen Kinoeinsatz.
Heiß erwartet war auch der nächste Aufschlag von Spike Lee, 2018 Grand Jury-Preis-Gewinner mit BLACKkKLANSMAN und 2021 als Präsident der Internationalen Jury berufen. Seinen neuen Film HIGHEST 2 LOWEST (apple tv+) wollte er aber nur im Wettbewerb oder gar nicht zeigen, worauf Thierry Fremaux ihn zunächst nicht einlud. Als Lee dann auf seiner Webseite den Film außer Konkurrent ankündigte, nominierte er ihn nach.
Die Thriller-Version von Akira Kurosawas ZWISCHEN HIMMEL UND HÖLLE mit Denzel Washington als schwerreicher legendärer Musikproduzent in der Hauptrolle, der mit einer Lösegeldforderung für seinen Sohn konfrontiert wird, enttäuschte allerdings die meisten Kritiker, kam er doch allzu kommerziell daher. Alles wirkt etwas zu sehr aufgetunt, zu klischeehaft und zu gewollt. Auch wenn der Film seine spannenden Momente hat, fällt er gegen das japanische Original deutlich ab.
Indirekt kam der Film dann doch noch zu Festival-Ehren: Spike Lee durfte die Laudatio auf Denzel Washington halten, der wie zuvor Robert de Niro eine Goldene Palme für sein Lebenswerk erhielt.
Einen großen Auftritt hatte auch Suzanne Lindon als Hauptdarstellerin in COLORS OF TIME (Studiocanal) unter der Regie von Cédric Klapisch (L’AUBERGE ESPAGNOLE). Die Tochter von Vincent Lindon und Sandrine Kiberlain ist keine Unbekannte in Cannes. 2020 sollte ihr Langfilm-Regiedebüt, in dem sie auch die Hauptrolle spielt, in der Reihe First Feature Films starten, doch das Festival fiel wegen Corona aus. Das Drehbuch hatte sie schon während ihrer Schulzeit geschrieben und direkt nach ihrem Abschluss in die Tat umgesetzt. In unseren Kinos lief ihr charmanter und mit viel Kritikerlob bedachter Film dann erfolgreich unter dem Titel FRÜHLING IN PARIS.
In COLORS OF TIME stellt sie nun ihr Schauspieltalent erneut unter Beweis. Es geht um eine 30-köpfige Erbengemeinschaft, die überraschend ein verwildertes Haus in der Normandie erbt. Es soll einer Mega-Mall mit 3000 Parkplätzen weichen und Investoren locken mit einem Kaufangebot. Vier Cousins der in aller Welt verstreuten Familie werden als Abgesandte beauftragt, in diesem Haus vor dem Verkauf nach verborgenen Schätzen zu suchen. Dabei stoßen sie auf die geheimnisvolle Adèle (Suzanne Lindon), die durch ein Porträt und zahlreiche vergilbte Fotos an den Wänden allgegenwärtig scheint. Die weitere Spurensuche hält so manche Überraschungen bereit und die Erkenntnis, wie spannend das Eintauchen in die Vergangenheit und die eigene Genealogie sein kann. Der Zuschauer kann den Lebensweg Adèles durch zahlreiche Einschübe mitverfolgen.
Als 20-jährige verließ sie 1895 die Normandie, um nach ihrer Mutter zu suchen, die sie nie kennengelernt hat. Ihr Weg führt ins pulsierende Paris in einer Zeit des industriellen und kulturellen Umbruchs: die Fotografie wird erfunden und der aufkommende Impressionismus wirbelt alte Konventionen in der Malerei durcheinander. Am Ende findet sie nicht nur ihre Mutter wieder, sondern auch neue Freunde, die sie mit der Welt der Kunst und Kultur der Jahrhundertwende bekannt machen.
Ein wunderbarer Publikums- und Parisfilm, der mit seiner lebendigen Erzählweise viel Vergnügen bereitet. Neben Suzanne Lindon ist der Film bis in die Nebenrollen mit einer ganzen Riege der angesagtesten französischen Schauspieler besetzt, was nur noch vom Figurenarsenal (u.a. Claude Monet, Felix Nadar, Victor Hugo, Sarah Bernhardt) getoppt wird.
Konventionell erzählt, aber ebenfalls ausgesprochen unterhaltsam ist Thierry Klifas THE RICHEST WOMEN IN THE WORLD (Neue Visionen) mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle. Die Handlung ist lose angelehnt an den Fall der Hauptanteilseignerin des Kosmetikkonzerns L’Oreal, Liliane Bettencourts, die als Tochter und Alleinerbin des Firmengründers bis zu ihrem Tod 2017 mit einem geschätzten Vermögen von 36 Milliarden US-Dollar als reichste Frau der Welt galt. Sie wurde 2009 von ihrer eigenen Tochter verklagt, die unter anderem beantragte, ihre Mutter unter Vormundschaft zu stellen, und Anklage erhob gegen den Fotografen Francois-Marie Banier wegen Erschleichung von Geschenken. Dieser hatte zwischen 2001 und 2007 rund eine Milliarde Euro von Bettencourts erhalten – in Form von Gemälden, Immobilien, Schecks und Lebensversicherungen, und damit den Unwillen ihrer Familie erregt.
In fiktionalisierter Form nimmt der Film diesen Fall auf, versetzt die Handlung in die achtziger Jahre und legt den Schwerpunkt auf die Beziehung zwischen der Konzernchefin Marianne und dem schillernden ebenso eloquenten wie berechnenden Celebrity-Fotografen und Buch-Autoren Pierre Alain.Beide fühlen sich voneinander angezogen. Der sich in ihrem Luxusleben langweilende Marianne gefällt das Selbstbewusstsein und die Offenheit des sich bohèmehaft und zunehmend vulgär gebenden Dandys, der seine Homosexualität offen auslebt, und jede Menge Ideen für extravagante Projekte hat, die er mit Hilfe ihres Geldes umsetzen möchte. Zusammen mit seinem Geliebten zieht er in die Familienvilla ein und kann sich bald fast alles herausnehmen. Anfangs noch staunend von der Familie und der Dienerschaft beäugt, macht sich allmählich Unbehagen und schließlich Wut breit. Besonders Mariannes sich nicht ausreichend geliebt fühlende Tochter spürt als eine der ersten, dass hier etwas gründlich aus dem Ruder läuft. Sie entschließt sich nach langem Zögern, dem Geschehen trotz aller Konsequenzen gerichtlich ein Ende zu setzen.
Thierry Klifa vermeidet allzu tiefes Eintauchen in die politischen Verstrickungen des juristischen Falls, legt den Schwerpunkt vielmehr auf die Dynamik einer sich langsam entwickelnden Abhängigkeitsbeziehung, die am Ende fast schon Thriller-Qualitäten hat. Gewohnt souverän füllt Isabelle Huppert ihre Rolle als gelangweilte Luxus-Erbin aus und erinnert damit an ihre bourgeoisie-kritischen Rollen in den Filmen Claude Chabrols. Auch Vergleiche zu Reichen-Bashing-Satiren wie THE SQUARE, THE MENU, TRIANGLE OF SADNESS oder SALTBURN kommen in den Sinn, jedoch erreicht der Regisseur längst nicht deren Schärfe. Gerne greift Klifa auch mal in die Soup-Opera-Kiste, was den Film aber auch sehr unterhaltsam macht. Vor allem die scharfzüngigen Dialoge der beiden Protagonisten bereiten viel Spaß.
Mehr als 100 Filme mit 50 Millionen Kinobesuchern kann Pierre Richard bisher vorweisen und zählt damit zu den bedeutendsten Figuren des französischen Kinos. Nach fast drei Jahrzehnten führte der 90-jährige mal wieder selbst Regie (zuletzt DROIT DANS LE MUR, 1997) und erntete stehende Ovationen. Er selbst sieht seinen Film wohl als Vermächtnis an. „Einen Film zu drehen, nimmt viel Zeit in Anspruch, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das in meinem Alter noch einmal tun werde. Aber eines kann ich versichern: Ich werde nie freiwillig aufhören zu arbeiten“, betonte er bei der Premiere.
Schon der Titel L’HOMME QUI A VU L’HOMME QUI A VU L’OURS (Der Mann, der den Mann gesehen hat, der den Bär gesehen hat) mutet kurios an. Tatsächlich streift ein Bär schon gleich zu Beginn immer mal wieder über die Leinwand. Erst später im Film erfahren wir: Es ist ein entlaufener Zirkusbär. Immer wieder taucht er unvermittelt auf zur Verwunderung und Aufregung der Bewohner des kleinen Örtchens Gruissans in Okzitanien: Er wird zum Symbol für die Freiheitsliebe einer Kreatur, die sich nicht mehr vereinnahmen lassen möchte – ganz ähnlich wie die der beiden Protagonisten des Films – Grégoire und Michel.
Die Rolle des Grégoire hat Richard selbst übernommen. Er spielt ihn als ‘grumpy old man‘, der zurückgezogen in einer ärmlichen Hütte am Meer wohnt, freiwillig, wie sich bald herausstellt. Denn Grégoire war früher CEO einer großen Firma. Eines Tages zog er sich überraschend zurück ans Meer, um ein abgeschiedenes, aber für ihn befriedigendes Leben zu führen. Doch plötzlich taucht sein Sohn Christos auf, um von seinem Vater aus Geldnot eine Unterschrift für den Verkauf des riesigen Familienanwesens zu fordern. Doch lieber als mit Geld beschäftigt Gregoire sich mit seinem Hobby, dem Angeln. Diese Leidenschaft teilt er mit seinem besten Freund Michel, der ebenfalls versucht, den Begehrlichkeiten seiner eigenen Familie zu entkommen. Der junge Mann hat das Asperger-Syndrom und ist wenig begeistert von dem von den Eltern vermittelten Jobangebot in der öffentlichen Verwaltung. Lieber versucht er gemeinsam mit Grégoire den entlaufenen Bären vor seinen Fängern zu verstecken, um ihm die Freiheit zu bewahren.
Ein liebevoller, feinfühliger Humor durchzieht Richards Alterswerk, nicht ohne zwischenzeitlich auch Ausflüge in den Boulevard zu unternehmen. Doch wer ein Werk im Stil seiner früheren Komödien mit ihm selbst als tollpatschigen Helden erwartet, liegt falsch. Sein Film ist eher ein Appell, sich wieder mehr auf die wahren Werte des Lebens statt auf das Materielle zu besinnen und sich gegen Überheblichkeit und Ignoranz zu wehren.
In der Reihe Midnight Screening lief Vincent Maël Cardonas NO ONE WILL KNOW (Studiocanal), ein Thriller um einen unverhofften Lottogewinn, der fast nur an einem Ort und in einer Nacht spielt. Eine der wenigen Treffpunkte in dem kleinen Örtchen ganz in der Nähe von Versailles ist die etwas heruntergekommene Kneipe „Le Roi Soleil“ (Der Sonnenkönig – so auch der französische Originaltitel). Als die beiden Polizisten Livio und Reda hier nach Dienstschluss einen Feierabenddrink zu sich nehmen, ahnen sie nicht, dass sie so schnell diesen Ort nicht mehr verlassen werden. Der Stammgast Monsieur Kantz stellt fest, dass er einen Lottogewinn in Millionenhöhe gemacht hat. Ungläubig macht er sich auf zur Lottoannahmestelle, dumm bloß, dass er den Lottoschein in der Kneipe vergisst. Die beiden Polizisten sammeln den Schein zunächst ordnungsgemäß ein, um ihn zurückzugeben. Als sie aufbrechen wollen, wird die Bar überfallen, der zurückkehrende Kantz kommt dabei zu Tode und die Ereignisse überschlagen sich. Immer im Fokus: der Lottoschein, der natürlich bei allen Gästen Begehrlichkeiten weckt.
Cardona ist mit seiner zweiten Regiearbeit nach DIE MAGNETISCHEN ein spannender Film gelungen, der buchstäblich auf kleinstem Raum Fragen nach Moral und Gewissen aufwirft, bei dem auch ein Mord bald nicht mehr ausgeschlossen scheint. Dabei bedient er sich eines multinationalen Ensembles und erzählt nicht linear, sondern wiederholt jeweils die einzelnen Szenen, um jedes Mal eine andere Perspektive der Beteiligten aufzuzeigen.Witzig auch der Hinweis am Schluss, dass Casanova den Sonnenkönig Ludwig XIV. auf die Idee zu einer staatlichen Lotterie brachte, um die maroden Staatsfinanzen aufzubessern. Jahrzehnte nach Ludwigs Tod wurde der Plan tatsächlich umgesetzt. Noch heute kommen Teile der Gewinne zahlreichen kulturellen und sozialen Projekten zugute.
Ebenfalls im Mitternacht-Screening war EXIT 8 (Plaion Pictures) des Japaners Genki Kawamura zu sehen. Hier sieht ein junger Mann, der gerade Vater wird, wie eine junge Frau in der U-Bahn beschimpft wird, weil sie ihr ständig schreiendes Baby nicht beruhigen kann. Er überlegt kurz einzugreifen, unternimmt aber dann doch nichts. Als er die U-Bahn verlassen will, landet er immer wieder in einem Gang mit dem Wegweiser, auf dem “Exit 8” geschrieben steht. Egal welchen Weg er einschlägt, er landet immer wieder in diesem Gang, wo ihm immer wieder ein Mann begegnet, der nicht ansprechbar ist. Manchmal lassen sich gewisse Türen öffnen oder Werbeplakate hängen in der falschen Reihenfolge. Alles wenig hilfreiche Hinweise. Interessant wird es erst, als er einem kleinen Jungen begegnet, der seine Mutter verloren hat. Ab jetzt suchen sie gemeinsam den Ausgang. Eine Suche, die immer unangenehmer wird, zum Beispiel als ihnen ein schwarzer Kater über den Weg läuft oder als plötzlich das Licht ausgeht. Am Ende gibt es sogar einen Notfallalarm und der U-Bahn-Tunnel wird mit Wasser geflutet. Jetzt muss er sich entscheiden, ob er sich um den Jungen kümmert oder lieber sein eigenes Leben rettet. Kawamura adaptiert hier das gleichnamige Escape-Videospiels, das 2023 veröffentlicht wurde und weltweit viral ging. Neben den spannenden Ellipsen, lässt es sich auch als Parabel auf die Ängste vor einer bevorstehenden Vaterschaft lesen.
Zuletzt war Andrew Dominik mit seiner Musik-Doku THIS MUCH I KNOW TO BE TRUE über Nick Cave aufgefallen, die 2021 in Venedig Premiere feierte. Jetzt legt er BONO: STORIES OF SURRENDER vor, in dem er Bonos Solokonzert in New York aufgenommen hat. Er erzählt hier von seiner früh verstorbenen Mutter, die er mit 14 Jahren verlor und seinem Vater, einem Tenor und absoluten Pavarotti-Fan, der nicht soviel von seiner Musik hielt und dessen Respekt er erst gewinnen konnte, als er zusammen mit Pavarotti auf der Konzertbühne stand. Auf diese Weise schleicht sich der italienisch Superstar immer wieder in den Film ein. Bono hat ihm zu Ehren in Irland ein kleines Sorrent nachgebaut und das Abschlusslied des Films findet dann auch in Neapel statt.
Der Film basiert auf Bonos Autobiografie „Bono: Stories of Surrender“ und ist mehr Bühnenshow als Solokonzert. Er erzählt viele Geschichten aus seiner Karriere und gibt seine Hits zum Besten. Für Fans ein Muss, aber dennoch nur gefälliger alternativer content, in dem Bono manchmal etwas selbstgefällig daher kommt.
Eröffnungsfilm der Quinzaine des Cinéastes war ENZO von Robin Campillo (120 BPM). Der wahre geistige Vater des Films ist jedoch der 2024 verstorbene Laurent Cantet (2008 Goldene Palme für DIE KLASSE). Campillo übernahm das Projekt und führte es erfolgreich zu Ende. Im Q&A nach der Aufführung in Cannes berichtete er liebevoll von der Zusammenarbeit mit seinem verstorbenen Kollegen, der das Drehbuch geschrieben und vor seinem Tod genaue Vorstellungen hatte, wie er es umsetzen wollte. “Es ist eigentlich Laurents Film”, so der Regisseur, „sein Vermächtnis an die Welt, die er jetzt verlassen hat. Laurent hat so viel Liebe in diese Arbeit gesteckt, ich habe alles gegeben, um seinen hohen Erwartungen gerecht zu werden.”
Das Gemeinschaftsprojekt ist ein Coming-of-Age-Film über einen Jungen aus reichem Hause, der eine Arbeit auf dem Bau einer Akademiker-Karriere vorzieht und damit die Erwartungen seiner Eltern durchkreuzt. Intelligent und zartfühlend integriert der Regisseur auch die Geschichte seiner ersten Liebe. Im Mittelpunkt steht der 16-jährige Enzo (Eloy Pohu), dessen Eltern in einer Villa an der Cote d’Azur leben. Während sein Bruder auf dem Sprung zu einem Studium an einer Elite-Uni ist, hat Enzo gerade die Schule geschmissen und eine Lehre als Maurer begonnen. Er möchte gerne mit seinen Händen arbeiten, argumentiert er, doch stößt er dabei nicht auf die Begeisterung seiner Eltern und seines Lehrherrn. Seine Eltern haben eine standesgemäße Hochschulkarriere für ihn geplant, sein Ausbilder hält ihn für zu langsam und ungeschickt.
Enzo geht noch aus einem anderen Grund morgens gerne zur Arbeit: sein charismatischer Kollege Vlad. Der Urkrainer hat sich nach Frankreich abgesetzt, weil er nicht für sein Heimatland in den Krieg ziehen will. Vlad ist freundlich zu Enzo und hilft ihm, wo er kann. Bald führen die beiden substantielle Gespräche über das Leben, die Enzo in seinem Elternhaus so sehr vermisst. Der Junge verliebt sich in den älteren Kollegen, ohne zunächst seine Gefühle benennen zu können. Erste auch körperliche Annäherungsversuche führen jedoch zum Desaster, denn der heterosexuelle Vlad ist alles andere als geneigt darauf einzugehen, reagiert erschreckt und abweisend. Kann die Freundschaft der beiden dennoch Bestand haben? Enzo muss zwischen dem Zuhause, das er verlassen will, und der Liebe, die nicht sein soll, seinen eigenen Weg finden. Regisseur Campillo stellt diese Dreieckskonstellation dar, ohne eine der Seiten zu diffamieren. Die Eltern wollen nur das Beste für ihren Sohn, Vlad entwaffnet durch seine Offenheit und Ehrlichkeit, während die selbstgemalten Bilder und Zeichnungen in Enzos Zimmer auf ein Talent hinweisen, dessen Potential er und die Welt erst noch entdecken muss. Ein schönes, liebevoll gemachtes Herzenswerk seiner Macher, das hoffentlich seinen Weg in die Kinos findet.
In der Quinzaine war auch ein weiterer deutscher Film zu sehen. Zum ersten Mal in seiner schon langen Karriere wurde Christian Petzold nach Cannes eingeladen und war dementsprechend nervös. Grundlos, wie sich herausstellte. Denn nach der Premiere seines neuen Films MIROIRS NO. 3 gab es den verdienten lang anhaltenden Applaus des Publikums und hervorragende Kritiken.
Während eines Ausflugs aufs Land überlebt die Berliner Studentin Laura einen schweren Autounfall ohne größere Verletzungen, während ihr Freund zu Tode kommt. Betty, eine Frau aus der Gegend, hat den Unfall beobachtet und bietet ihr an, zunächst in ihrem nahe gelegenen Haus unterzukommen, um den ersten Schock zu überwinden. Liebevoll kümmert sie sich gemeinsam mit ihrem Mann und Sohn um sie, doch die vermeintliche Idylle täuscht. Nicht nur Laura muss sich ihrer Vergangenheit und den eigenen inneren Verletzungen und Verlusten stellen.
Wie immer präzise und elegant mit einem hervorragenden Ensemble (Paula Beer, Barbara Auer, Matthias Brand, Enno Trebs) inszeniert, überzeugte Petzold mit seinem stillen Melodram, das in Cannes sogleich in die USA verkauft wurde.
Außerhalb des Wettbewerbs als Cannes-Premiere wurde ein weiterer deutscher Film gezeigt. AMRUM (Warner) beruht auf den Kindheitserinnerungen von Hark Bohm. Er hat das Drehbuch zusammen mit seinem Freund Fatih Akin Akin geschrieben – wie sie es schon bei AUS DEM NICHTS gemacht haben und Diane Kruger, die dafür 2017 hier als beste Schauspielerin geehrt wurde, ist auch wieder mit von der Partie. “Irgendwann wurde Hark der Stoff zu persönlich und kam ihm so nahe, dass er mich gebeten hat, an seiner Stelle die Regie zu übernehmen”, berichtete Fatih Akin bei der Premiere und nannte AMRUM seinen ersten Hark Bohm-Film.
Erzählt wird die Geschichte des kleinen Manning, der während des 2. Weltkrieges mit seiner Mutter, deren Schwester und seinen Geschwistern in einem großen Haus auf Amrum lebt. Sein Vater dient an der Front, und seine Mitschüler akzeptieren ihn nicht als Amrumer, weil er aus Hamburg gekommen ist, als dort die Gymnasien geschlossen wurden. Sensationell an diesem Film ist der rote Faden: Mannings Mutter ist hochschwanger und reichlich depressiv. Das Kriegsende zeichnet sich ab, was für die stramme Nazi-Familie keine gute Nachricht ist, und so verweigert sie jede Nahrung und verlangt nach einem Weißbrot mit Butter und Honig. Auch wenn es keine dieser Zutaten auf der Insel gibt, ist Manning fest entschlossen, seiner Mutter diesen Wunsch zu erfüllen. Er nimmt Kontakt auf zu allen Leuten, die ihm die nötigen Zutaten besorgen können und recherchiert dabei unbewusst seine eigene Familiengeschichte, versteht warum sein Onkel nicht mit ihm reden will und kommt hinter ein dunkles Familiengeheimnis, das für ihn eine große Enttäuschung ist. Ihm wird klar, dass es Zeit ist erwachsen zu werden und seinen eigenen Weg zu gehen.
Drei originär deutsche Filme in Cannes, davon einer im Wettbewerb, der auch noch den Grand Jury-Preis gewann und dazu noch eine Handvoll Koproduktionen mit deutscher Beteiligung – so was hat es lange Jahre nicht gegeben. So war das Festival nicht nur für Deutschland ein großer Erfolg, sondern auch für die Filmkunst, die hier auch in der Breite mit vielen überdurchschnittlichen Filmen, die auch Zugkraft beim Publikum haben sollten, überzeugen konnte.