Am Ende der Milchstrasse

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Bei den vielen Diskussionen um die Entwicklung Deutschlands stehen meist die Metropolen und das Umland im Mittelpunkt. Aus dem Blick gerät leicht, dass es in diesem Land Regionen gibt, die schon lange von dieser Entwicklung abgekoppelt sind. Die Doku-Filmer Leopold Grün und Dirk Uhlig fanden in Mecklenburg-Vorpommern einen winzigen Ort, der wirkt, als sei er tatsächlich aus der Zeit gefallen. Die beiden porträtieren eine Dorfgemeinschaft, die aus ihrer Abgeschiedenheit das Beste zu machen versucht.

Webseite: www.mm-filmpresse.de

Deutschland 2012
Regie und Buch: Leopold Grün, Dirk Uhlig
Produzenten: Benny Drechsel, Karsten Stöter
Kamera: Börres Weiffenbach
Länge: 97 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 24. Oktober 2013

PRESSESTIMMEN:

"Leopold Grün und Dirk Uhlig zeichnen das ebenso anrührende wie unspektakuläre Porträt einer Dorfgemeinschaft in Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Film zeigt, wie am Rand des Existenzminimums neue Formen des Zusammenlebens entstehen."
Cinema

FILMKRITIK:

Wischerhausen in Mecklenburg-Vorpommern. Wer das 50-Seelen-Dorf besuchen will, muss von der ohnehin wenig befahrenen Landstraße abbiegen. Ringsum liegen Felder, wohin das Auge reicht. Für Bullerbü-Romantik ist hier aber kein Platz. Die meisten der Bewohner sind arbeitslos. Oft fehlt das Geld, die Häuser in Schuss zu halten. Sie sind Selbstversorger, halten sich mit Nachbarschaftshilfe über Wasser. So wie der beleibte Maxe, einer der wenigen mit einem Job auf dem benachbarten Milchhof. Oder wie Harry, der vor Jahren hier strandete, seinen Nachbarn die Motoren repariert und dafür von einem geschlachteten Schwein abbekommt. Die Menschen hier wollen nirgendwo anders leben, für sie ist Wischershausen der Nabel der Welt. Das bedeutet aber nicht, dass ihr Leben einfach wäre.

„Oh, da seid Ihr ja schon“, ächzt Maxe, als er sich am frühen Morgen aus dem Bett stemmt. Die beiden Filmemacher tauchen zwar nie selbst im Bild auf, aber sie sind auch nicht unsichtbar. Sie thematisieren gleich in der ersten Sequenz den Produktionsprozess, anstatt ihn, wie es in Dokus zu häufig geschieht, zwischen den Bildern zu verstecken. Ansonsten aber nehmen sie sich zurück. Sie beobachten, lassen ihre grandiosen Natur-Tableaus in den verschiedenen Jahreszeiten sprechen. Aber auch die Eindrücke von Armut und Verfall, die das ganze Dorf prägen. Nur langsam, behutsam schälen sich die Biografien der Menschen heraus, die hier leben. Und auch dann nur bruchstückhaft. Grün und Uhlig führten viele Vorgespräche, lernten ihre Protagonisten kennen. Aber sie entschieden sich dafür, nicht zuviel über sie zu erzählen.

Eine gute Entscheidung. Niemand behauptet hier, ganze Leben in weniger als zwei Stunden erklären zu können. Es sind gerade die Leerstellen, die Mehrdeutigkeiten, die aus „Am Ende der Milchstraße“ einen so klugen, fast zärtlichen Film machen. „Von mir aus können die die Mauer wieder hochziehen“, sagt einer. Immer wieder ist das Ende der DDR Thema. Die Regisseure zeigen den Bruch, der diesen fast traditionslosen Ort bis heute prägt. Aber sie belassen es dabei. Sie widerstehen auch der Versuchung, aus diesen Menschen Ausstellungsstücke zu machen. Nein, hier leben Männer, die Kirschlikör aus der Flasche trinken und Frauen, denen die Traumata ihrer Vergangenheit ins Gesicht gezeichnet sind.

Aber sie alle nehmen den oft schwierigen und unsicheren Alltag mit stoischer Ruhe hin. Sie machen nicht viele Worte, auch wenn immer wieder durchscheint, dass sie sich von der Politik allein gelassen fühlen. Unbezahlbarer Ackerbodern, Dumpinglöhne, Arbeitslosigkeit – die Bewohner von Wischershausen haben das Vertrauen in das Land das draußen verloren. Lieber helfen sie sich selbst und gegenseitig. Darin liegt keine Romantik und auch kein neuer Trend. Es ist reine Notwendigkeit. Aber Bitterkeit ist in Wischershausen ebenfalls fehl am Platz.

Oliver Kaever