andere Seite des Mondes, Die

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Seit seinem Regiedebüt „Confessionnal“ (1995) gilt der Kanadier Robert Lepage als Bildmagier und Filmkomponist. Da überrascht es wenig, dass auch in seinem neuesten Werk  „Die andere Seite des Mondes“ in erster Linie die visuelle Montage beeindruckt. In bemerkenswert verschmelzenden Übergängen verbindet er die Geschichte zweier Brüder mit dem historischen Wettlauf der Sowjets und Amerikaner um die Vormachtstellung im Weltraum. Lepage selbst schlüpft in seiner melancholischen Komödie in eine beachtlich vielschichtige Doppelrolle.

Webseite: www.flaxfilm.de

La Face cachée de la lune
Kanada 2003
Regie: Robert Lepage
Drehbuch: Robert Lepage
Darsteller: Robert Lepage, Anne-Marie Cadieux, Marco Poulin, Céline Bonnier
Filmverleih: Flax Film
Länge: 105 Minuten
FSK: ohne Altersbeschränkung
Kinostart: 29.06.2006

PRESSESTIMMEN:

Regisseur Robert Lepage entwirft das thematisch wie formal vielgestaltige Porträt eines vom Leben enttäuschten Philosophen, dessen existenziellen Fragen er sich ernsthaft und zugleich voller Sinn für die Absurditäten des Seins widmet. Eine philosophierende Komödie, die einen reizvollen Bewusstseinsstrom produziert, dem man sich gern überlässt.
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FILMKRITIK:

Auf der Leinwand können selbst die kleinsten Dinge des Lebens riesengroß erscheinen. Das ist eine unumwundene Stärke des Kinos. Und so drehen sich viele Filme auch um die unscheinbaren und doch so wichtigen Details des Alltags, denen wir im Grunde wesentlich mehr Aufmerksamkeit schenken sollten.
 

In seinem neuesten Film „Die andere Seite des Mondes“ kehrt der kanadische Filmemacher Robert Lepage dieses bewährte Prinzip zunächst einmal um. Sein Protagonist Philippe kommt kaum mit den Banalitäten des Alltags zurecht. Verzweifelt ist er auf der Suche nach seinem Platz im Universum. Er ist mittlerweile über 40 und träumt noch immer in kindlicher Naivität von der Raumfahrt. Er strebt nach oben, verpasst dabei allerdings den Anschluss auf der Erde. Zurückgezogen lebt Philippe im elterlichen Heim. Beruflich hat er es bislang noch nicht weiter als bis in ein Call-Center geschafft. Ganz anders sein Bruder André. Er ist der erfolgreiche Wetterfrosch einer landesweiten TV-Station. Freimütig genießt er sein Leben. Seit ihrer Jugend haben sich die beiden ungleichen Brüder stetig voneinander entfremdet. Erst der Tod ihrer Mutter führt sie wieder näher zusammen und sie entdecken verborgene Gemeinsamkeiten.

In einer beachtlichen Leistung schlüpft Multitalent Lepage vor der Kamera in die Doppelrolle der beiden Brüder Philippe und André. Den einen spielt er verträumt, wortkarg und introvertiert. Den anderen redselig, oberflächlich und chaotisch. Sie sind zwei derartig grundverschiedene Charaktere, dass Lepages Doppelrolle erst nach mehrmaligem Hinschauen offensichtlich wird. Trotzdem haben die Brüder hinter ihrer ungleichen Fassade identische Wurzeln. Diesen Zwiespalt zu transportieren ist ein schwieriges Unterfangen, das Lepage eindrucksvoll und mit hintergründig leisem Humor meistert.

Allerdings hat sich der Filmemacher, der seit seinem Debüt „Confessionnal“ als kanadischer Bildmagier gilt, auch schon lange mit dem Plot auseinander setzen können. Schließlich basiert „Die andere Seite des Mondes“ auf seinem weltweit gefeierten Bühnenstück aus dem Jahr 2000. Die daraus resultierende Verfilmung konnte ebenfalls schon internationale Anerkennung für sich verbuchen. So gewann das Werk auf der Berlinale 2004 den Preis der Filmkritik. Mit gut zweijähriger Verspätung ist die melancholische Komödie jetzt auch im regulären Kino zu sehen.

Diese Verzögerung mag daran liegen, dass „Die andere Seite des Mondes“ kein stringent erzählerisches Werk, sondern vor allem ein visuelles Erlebnis ist. Der Film zeigt eine poetisch verspielte Mischung aus Gegenwart und Vergangenheit. Lepage nutzt dabei viele Allegorien. Philippes innerer Kampf mit den Banalitäten des Alltags wird dem Wettstreit der Sowjets und Amerikaner um die Vormachtstellung im Weltraum gegenüber gestellt. Des Öfteren mischt sich die fiktive Handlung mit Archivmaterial.

In der vielleicht besten Montage des Films dringt die Kamera in den Bauch von Philippes hochschwangeren Mutter ein. Doch anstatt einen Fötus zu zeigen, verwandelt sich das Bild in einen Astronauten, der in der Schwerelosigkeit des Weltalls schwebt und mit einer Art Nabelschnur an sein Mutterschiff gekettet ist.

Die Bildsprache und Metaphern in „Die andere Seite des Mondes“ sind ein visueller Hochgenuss. Zugleich hält Lepage zwei Brüdern den Spiegel vor und dringt dabei bis in ihren innersten Kern ein. Dadurch offenbaren sich Gefühle, die so verdrängt und versteckt lagen - wie lange Zeit die Rückseite des Mondes.

Oliver Zimmermann