Ghetto

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Wie reagieren Menschen, die in ständiger Todesgefahr schweben? Welche moralischen Grundsätze können sie unter einem menschenvernichtenden Regime noch einhalten? Um diesen furchtbaren Zwiespalt dreht sich Joshua Sobols vielfach preisgekröntes Theaterstück „Ghetto“,1984 in Israel uraufgeführt und in 20 Sprachen übersetzt. In der eher konventionellen Theaterverfilmung des litauischen Regisseurs Audrius Juzenas, der sich eng an der Bühnenvorlage orientierte, hat es nicht an seiner Wucht verloren.
Der Film basiert auf wahren Begebenheiten, die sich in den Jahren 1942/1943 im Jüdischen Ghetto von Vilnius (Littauen) während der Okkupation der Nationalsozialisten zugetragen haben.

Webseite: www.stardust-filmverleih.de

D/Litauen 2005
R:Audrius Juzenas
B: Joshua Sobol nach seinem Theaterstück „Ghetto“
D: Heino Ferch, Erika Marozsán, Sebastian Hülk, Vytautas Sapranauskas, Andrius Zebrauskas, Maragita Ziemelyte, Alvydas Slepikas, Jörk Lamprecht
Format: 35mm, 1,66, Dolby SR
Verleih: Stardust Filmverleih
L: 110 Min.
Start: 8. Juni 2006

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Am 22. Juni 1941 marschieren die Nationalsozialisten in Litauen ein, innerhalb von sechs Monaten ermorden sie 55.000 litauische Juden, für die verbliebenen 15.000 errichten sie ein Ghetto in Vilna. Nur wenigen gelingt die Flucht vor den Erschießungkommandos. Zu ihnen gehört die Sängerin Haya (Erika Marozsán, „Gloomy Sunday“), die auch die Erzählerin der folgenden Geschichte ist. Mit einer Gruppe von Schauspielern gelangt sie durch die Kanalisation in das Ghetto. Ihre Stimme betört den Lagerkommandanten so sehr, dass er die Einrichtung eines Bühnenbetriebes anordnet. Die Ghettobewohner zeigen sich von der Idee entsetzt. „Auf dem Friedhof spielt man kein Theater“. Aber der jüdische Polizeichef Jakob Gens (Heino Ferch spielt die Ambivalenz überzeugend) sieht darin eine Möglichkeit, Menschenleben zu bewahren, und überzeugt den Bauchredner Strulik (Andrius Zebrauskas) als Intendant zu fungieren.

Der 22-jährige, blonde, blauäugige Lagerkommandant Kittel (Sebastian Hülk als energiegeladener Prototyp eines Jungnazis) spielt jederzeit seine Machtposition aus, zum einen wie ein unerzogenes Kind, das keine Folgen für sein Handeln kennt, zum anderen als  zynischer  Bildungsbürger, der sich als Künstler geriert. In einem Koffer trägt er ein Maschinengewehr, in dem anderen ein Saxophon. Nach Scheinerschießungen und Demütigungen wechselt er blitzschnell über zu Sympathiebekundungen: „Meine lieben Freunde!“.

Ein  Spiel auf Leben und Tod nimmt seinen grausamen Lauf. Strulik, der Puppenspieler und Lina als kindische, menschliche Puppe gehen mit ihren schwarzhumorigen Sketchen über die Ghettoverwaltung gefährlich weit. Auf einer Sylvester-Orgie müssen sich die jüdischen Schauspieler mit ihren Aufsehern verlustieren. Gens und Haya nutzen den Überschwang der Stunde, um dem in Haya verliebten, besoffenen Kittel ein Zugeständnis abzuverlangen, das wieder hunderte Menschenleben rettet. Es ist auch Jakob Gens, der mit dem geschäftstüchtigen Fabrikanten Weiskopf (Vytautas Sapranauskas), der  Uniformen der Wehrmacht flicken lässt , über mehr Arbeitskräfte verhandelt und der zum Kommandanten Kittel eine „gute“ Beziehung anstrebt. Aber Gens ist auch verantwortlich für die Aussonderung von Greisen und Kindern, für grauenvolle Pozesse, die ihm den Hass der Ghettobewohner eintragen: „An meinen Händen klebt Blut. Um anderen zu helfen, musste ich mich in die Schmutzlake stürzen. Ich hatte nicht die Möglichkeit für ein reines Gewissen.“

Schauplatz des Film ist das ehemalige Ghetto von Vilna. Der Großteil der Handlung nimmt im Bühnenraum Platz. Die komprimierten, artifiziellen Bühnendialoge hätten vermutlich nicht in einen Spielfilm gepasst. (Bibliothekar Kruk: „Sie sind der Mörder unserer gesamten Familie.“ Kittel: „Werden Sie nicht sentimental. Denken Sie, die Allierten wüssten nicht, was wir tun? Wir werden auch nach dem Krieg wieder gebraucht.“) Auch die Musikaleinlagen, die in den Theaterinszenierungen für Auflockerungen sorgten, wirken hier zurückgenommen. Der ausgewogenen bis unentschiedenen Umsetzung ist anzumerken, dass der Film Teil des nationalen Litauischen Holocaust Gedenkprogramms ist, in das insgesamt neun Länder involviert sind.

Dorothee Tackmann

Vielen ist sicherlich noch Roman Poöanskis Glanzstück „Der Pianist“ im Sinn. Damals ging es um das Warschauer Ghetto, während des zweiten Weltkrieges. Heute scheint mit der Osterweiterung der EU auch das Schicksal des baltischen Staates Litauen auf unsere Leinwand zu drängen. In deutsch-litauischer Koproduktion erfahren wir nun etwas aus dem Ghetto von Vilna und als Vorlage dient Joshua Sobols weltberühmtes Theaterstück.

Dabei geht es nicht darum, ein realistisches Porträt des Lebens im Ghetto zu zeichnen. Film und Theaterstück legen vielmehr ihren Schwerpunkt auf die philosophischen Fragen, die diese Extremsituation mit sich bringt. Wie lebt es sich in einer Gemeinschaft mit dem sicheren Tod vor Augen? Darf man das Leben eines Einzelnen opfern, um das von vielen zu retten?
Mit letzterer Frage hat insbesondere Gens, der Chef der jüdischen Polizei, die für Ordnung im Lager sorgen muss, zu kämpfen. Er weiß, dass nur der überleben wird, der für die Nazis irgendeinen Nutzen hat. Einen solchen erfüllt beispielsweise Weiskopf, der seinen Plan deutsche Frontuniformen im Ghetto zu reparieren, um den langen Weg nach Berlin abzukürzen, verwirklicht hat. Der Lagerkommandant Kittel gibt ihm die Erlaubnis dafür, und so sind hundert Ghettobewohner durch eine Arbeitserlaubnis gerettet. Doch Kittel ist unberechenbar und schwer einzuschätzen. Beinahe erinnert er an Spielbergs Kommandanten Amon Goeth aus „Schindlers Liste“. Als er die schöne Sängerin Haya mit einem gestohlenen Sack Bohnen entdeckt, erschießt er sie nicht, sondern beginnt ein perfides Spiel und lässt sie die gestohlenen Bohnen bei ihm absingen. Auch lässt er das hiesige Theater wiedereröffnen und ordnet Aufführungen an, deren Premieren er stets in der ersten Reihe sitzend beiwohnt. Ob ihm das Stück gefällt, ist dabei eine Frage, die über Leben und Tod im Lager entscheidet. Kittel treibt sein barbarisches Spiel auf die Spitze, in dem er sich einerseits an den kulturellen Darbietungen der Juden erfreut, um ihnen gleich anschließend ihre Wertlosigkeit vor Augen zu führen. Auch sein Werben um die schöne Haya nimmt mehr und mehr fordernden Charakter an, bis sie sich entscheiden muss, ob ihre Tugendhaftigkeit oder das Leben ihrer Freunde wichtiger ist.
Dem litauischen Regisseur Audrius Juzenas gelingt es, den Geist von Joshua Sobols Theaterstück für die Leinwand einzufangen und so bleiben am Ende nicht nur viele Tote übrig, sondern auch das schlechte Gewissen derjenigen, die überlebt haben und sich fragen müssen, auf wessen Kosten ihnen dies gelungen ist.

Kalle Somnitz