Astrid Lindgren – Die Menscheit hat den Verstand verloren

Meist sind Tagebücher nur für diejenigen interessant, die sie schreiben. Doch es gibt Ausnahmen, die unter anderem für Prominente und insbesondere für Autorinnen und Autoren gelten. Eine solche Ausnahme sind auch die Tagebücher, die Astrid Lindgren in den Jahren 1939 bis 1945 schrieb. Mit diesen Aufzeichnungen hat sie nicht nur eine Chronik von Schweden im 2. Weltkrieg verfasst, sondern auch ihr nicht immer einfaches Familienleben beschrieben und die Entstehungsgeschichte von „Pippi Langstrumpf“ zu Papier gebracht. Wilfried Hauke, der vor allem durch seine Fernsehproduktionen bekannt ist, hat einen bewegenden Dokumentarfilm über die Entstehung dieser Tagebücher gedreht.

 

Über den Film

Originaltitel

The Window In Stockholm

Deutscher Titel

Astrid Lindgren – Die Menscheit hat den Verstand verloren

Produktionsland

DEU

Filmdauer

93 min

Produktionsjahr

2025

Regisseur

Hauke, Wilfried

Verleih

farbfilm verleih GmbH

Starttermin

22.01.2025

 

1939 dachte Astrid Lindgren noch nicht einmal im Traum daran, einmal eine Schriftstellerin und weltberühmt zu werden. Zu dieser Zeit hatte sie ganz andere Sorgen: Sie war 32 Jahre alt, hatte zwei Kinder zur Welt gebracht – einen unehelichen Sohn, den sie mit 18 Jahren  bekam und der zunächst bei einer Pflegemutter in Dänemark aufwuchs, und ihre Tochter Karin, die 1934 geboren wurde. Da war sie schon 3 Jahre mit Sture Lindgren verheiratet. Ihr Ehemann hat schon 1939 Alkoholprobleme, die sich noch verschlimmern, als er sich in eine andere Frau verliebt und Astrid verlassen will, doch diese private Krise führt vor allem dazu, dass sie weniger schreibt – und schon gar nicht über ihre Gefühle. Im Mittelpunkt ihrer Aufzeichnungen steht der 2.  Weltkrieg, der für die zukünftige Autorin ein Schrecken ungeahnten Ausmaßes ist. Zunächst überwiegen ihrer Ängste vor Stalin und einem Überfall durch die Sowjetunion, doch je weiter die Zeit fortschreitet, desto größer wird ihr Abscheu vor den Nazis und ihren Gräueltaten. Ein neuer Job erweist sich zudem für Astrid Lindgren als besonders hilfreich für ihre Tagebücher zum 2. Weltkrieg: Ab 1940 arbeitet sie, die zuvor als Sekretärin des schwedischen Automobilclubs tätig war, bei der Briefzensur des schwedischen Staates. Im Auftrag des Geheimdiensts liest sie die Briefe schwedischer Bürger und erfährt so, wie der Krieg das Leben der Menschen und ihr Denken verändert. Und ganz nebenbei beschreibt sie in ihren Tagebüchern, wie sie beginnt, ihrer Tochter Geschichten über ein rebellisches Mädchen namens „Pippi Langstrumpf“ zu erzählen …

 

Wilfried Hauke hat nicht die naheliegende Lösung gewählt und sich darauf beschränkt, Astrid Lindgrens Kriegstagebücher mit historischen Aufnahmen zu bebildern. Stattdessen hat er einen Hybrid aus Dokumentarfilm, Biopic und „Making of Tagebuch“ geschaffen, der deutlich über Astrid Lindgrens Tagebücher hinausgeht. Dieser Drahtseilakt gelingt überraschend gut, besonders, was das Nebeneinanderstellen von Spielszenen, bei denen Schauspieler in die Rollen von Astrid Lindgren, ihrem Mann und ihren Kindern schlüpfen, und Dokumentarszenen anbelangt, denn Astrid Lindgrens Tochter Karin Nyman, ihre Enkelin Annika Lindgren und ihr Urenkel Johan Palmberg kommen persönlich zu Wort. Hier hätte man Brüche und Irritationen erwartet, doch die Szenen stehen gleichberechtigt nebeneinander, ohne dass es inhaltliche oder ästhetische Verwerfungen gibt. Das ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass in den Spielszenen hochkarätige Schauspieler wie Sofia Pekkari (Astrid Lindgren) und Tom Sommerlatte (Astrids Mann Sture) eingesetzt wurden, denen eine authentische Darstellung der historischen Figuren mühelos gelingt.

 

Der Film vermittelt viel von dem Lebensgefühl, das in Schweden bei Ausbruch des 2. Weltkriegs herrschte, und er zeichnet auch die Veränderungen nach, die es in den nächsten Jahren erfuhr. Die Parallelen zu unserer heutigen Gegenwart sind verblüffend: Diese Mischung aus Ohnmacht und Egoismus, die heute angesichts des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine und vieler anderer schwelender Konflikte in der Welt zu spüren ist, gab es schon damals. Es scheint, als ob die Menschheit nicht nur den Verstand verloren hat – sie hat auch in der Gummizelle nichts dazugelernt. 

 

Astrid Lindgrens Kriegstagebücher, die sie in 17 Kladden mit zahlreichen eingeklebten Zeitungsartikeln hinterließ, sind erst 2015 in Buchform erschienen. Ihre Nachfahren haben sich für die Veröffentlichung fast ohne Änderungen entschieden – der Film spiegelt nicht nur Astrid Lindgrens Persönlichkeit wider, sondern er bietet auch Einblicke in ihre Familie, die mit dem Erbe der Schriftstellerin lebt, die sich auch im hohen Altern noch politisch und sozial engagiert hat. So ist ein sehr nachdenklich machender Film entstanden. Er macht nicht nur Lust darauf, Astrid Lindgrens Tagebücher selbst zu lesen, sondern er zeigt auch ihre Entwicklung zur Schriftstellerin: wie sie in einer tiefen persönlichen Krise die Kraft des Schreibens entdeckte, die sich für sie als menschliche und berufliche Rettung erweisen sollte. Vielleicht ist die schwedische Autorin sogar eines der besten Beispiele für die kathartische Wirkung des Schreibens – zumindest was ihren Erfolg betrifft.

 

Gaby Sikorski

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