Charlie Mariano – Last Visits

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Im Juni 2009 ist der seit Mitte der 80er Jahre in Köln lebende Jazzsaxofonist Charlie Mariano 85-jährig gestorben. Der Dokumentarfilmregisseur Axel Engstfeld hat den Sohn italienischer US-Immigranten in den letzten beide Jahren seines Lebens begleitet, privat ebenso wie auf der Bühne. Sein Film ist das Porträt eines Mannes, der reich an musikalischer Inspiration war und vielen Generationen europäischer Jazzmusiker als Vorbild galt, trotz seines Ruhmes aber arm starb. Im Subtext erzählt die Doku auch vom Zusammenhalt und der ehrerbietenden Haltung seiner Jazzfreunde.

Webseite: www.realfictionfilme.de

Deutschland 2013
Regie: Axel Engstfeld
Dokumentarfilm
99 Minuten
Verleih: Real Fiction Filmverleih
Kinostart: 13.2.2014

FILMKRITIK:

Ein kleines Nickerchen auf der faltbaren Pritsche in den Backstageräumen einer Konzertlocation, mit diesem Bild steigt Regiseur Axel Engstfeld in seinen Porträtfilm über Charlie Mariano ein. Dass der seit 1995 an Prostatakrebs erkrankte Saxofonist nicht mehr Vollgas geben kann, nimmt ihm keiner der Musiker, mit denen er gleich auf der Bühne stehen wird, übel. Trompeter Matthias Schriefl, der Gastgeber des Abends, kritisiert ein wenig die Erwartungshaltung einzelner Veranstalter und auch des Publikums, die eine Garantie dafür haben wollen, dass der angekündigte Stargast tatsächlich auch spielen wird. Marianos Name auf dem Plakat jedenfalls war stets ein Garant für bessere Besucherzahlen. „Wenn er’s nicht schafft, dann spielen wir seine Stücke eben ohne ihn“, sagt Schriefl, für den es keinen Unterschied macht, ob der Benefizauftritt zugunsten des 1923 in Boston als Sohn italienischer Einwanderer geborenen Musikers mit ihm oder nur mit seinen Kompositionen stattfindet. Klar wird: die Musiker verbeugen sich vor diesem außergewöhnlichen Menschen – und das tut auch Engstfelds Doku.
 
Mariano hat in den USA mit Charlie Parker und Dizzy Gillespie gespielt, Charles Mingus bezeichnete den lyrisch-melancholischen Klang seines Saxofonspiels als „Tears of Sound“. 1971 zog Mariano nach Europa. Sein Vermächtnis ist auf geschätzten 300 CD- und Schallplattenveröffentlichungen festgehalten. Der Blick in die Biografie und den künstlerischen Werdegang von Charlie Mariano fällt in „Last Visits“ im Vergleich zu anderen Musikdokumentationen etwas spärlich aus. Altes Archivmaterial ist rar, ebenso Fotos aus dem privaten Fundus, meist sind es die gleichen Motive, die gegen später im Film auch beim großen Geburtstagskonzert für Charlie Mariano im November 2008 im Stuttgarter Theaterhaus, zu dessen „Hausband“, dem United Jazz & Rock Ensemble, er lange Jahre gehörte, projiziert werden. Schade ist, dass Mariano zwar davon erzählt, wie er in Indien das Nagaswaram – ein kehlig-trötendes Blasinstrument ähnlich einer Oboe, das jedoch einer hohen Virtuosität bedarf – spielen lernte (und ihn zum begehrten Mitspieler etwa der Münchner Krautrock- und Ethnoband Embryo machte), man ihn aber nicht darauf spielen sieht oder wenigstens hört.
 
Zu Wort kommen vor allem der Keyboarder Mike Herting und Matthias Schriefl, nett ist, wie Mariano und der belgische Gitarrist Philippe Catherine einen amüsanten Probendisput haben. Unterm Strich tut es letztlich sogar gut, einmal nicht mit einem endlosen Aufgebot an Talking Heads gefüttert zu werden. Engstfeld genügen wenige Statements, um Charlie Mariano und den Respekt vor ihm zu charakterisieren, zu zeigen, in welch idealistischer Weise die Jazzmusikergemeinde zusammenhält und Mehrwert aus gemeinsam Erlebtem zieht. „Seine Soli werden immer kürzer, aber immer tiefer“, heißt es hier, „Er spielt sein Leben, seine Musik ist in unglaublichen Feinheiten angekommen“ dort. So wenig wie Mariano selbst in seiner Zurückhaltung großes Aufheben um sich machte (wobei er ein durchaus strenger und Disziplin verlangender Spielpartner gewesen sein soll), so respektvoll erinnert auch dieser Dokumentarfilm an einen Menschen, der durch seine Musik lebte und wirkte. Hier darf man ihn noch einmal mit einigen seiner Wegbegleiter der vergangenen 40 Jahre, darunter Wolfgang Dauner, Jasper van’t Hof, Philip Catherine, Ak van Royen, Paul Shighara, Dieter Ilg, Mike Herting, Matthias Schriefl und Ramesh Shotham, in unvergesslichen musikalischen Momenten erleben.
 
Thomas Volkmann