El Sistema

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Der mitreißende Dokumentarfilm „El sistema“ zeigt beeindruckend, welche unerschöpfliche Macht und integrative Kraft die Schönheit der Musik entfaltet, wenn sie sich mit sozialem Engagement verbindet. Beseelt von der Vision einer besseren Zukunft für Ausgegrenzte gründete der alternative Nobelpreisträger José Antonio Abreu vor 30 Jahren in Venezuela ein landesweites Netzwerk von Musikzentren aus Kinder- und Jugendorchestern. Die beispiellose Erfolgsgeschichte seiner zündenden Idee macht Mut zur Hoffnung.

Webseite: www.el-sistema-film.com

Deutschland 2008
Regie: Paul Smaczny, Maria Stodtmeier
Kamera: Michael Boomers, Christian Schulz
Schnitt: Steffen Hermann
Darsteller: José Antonio Abreu, Frank Di Polo, Gustavo Dudamel, Wilfrido Galaraga, Gerald Chancon, Yobran Bravo, Roderyck Alvarado, Albani Tovar, Mairi Padrón
Länge: 90 Minuten
Verleih:  Novapool Pictures (24 Bilder)
Kinostart: 16.4.2009

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Zischend steigt eine Rakete senkrecht in den Nachthimmel von Caracas. Ein Funkenregen entlädt sich über der venezolanischen Hauptstadt. „Zünden wir noch eine“, meint Geiger Frank Di Polo vor seinem Haus.„Es gibt immer einen Grund,“ scherzt das Gründungsmitglied von El Sistema, „eine Rakete zu zünden“. Fast wirkt die Eingangssequenz des Films wie eine Metapher für die beispiellose Erfolgsgeschichte des venezolanischen Musiknetzwerks „El Sistema“. Rund 300 000 Kinder und Jugendliche aus der sozialen Unterschicht lernen heute ein Instrument. Ihnen zeigte die Kraft der Musik einen Ausweg aus dem Teufelskreis der Gewalt und Armut in den Barrios, den Elendsvierteln.
Eine Vision umgesetzt von einer charismatischen Persönlichkeit: Der 67-jährige José Antonio Abreu, ein kleiner, leise sprechender Mann in Anzug und Krawatte, ist bekannt für seine unerschöpfliche Energie und seinen geradezu klösterlichen Lebenswandel. Vor 30 Jahren kehrte der Wirtschaftswissenschaftler dem Universitätsbetrieb den Rücken. Beseelt von der Utopie auf eine bessere Zukunft für alle startet der Alternative Nobelpreisträger seine zündende Idee. Mit zwölf Kindern aus sozialen Brennpunkten gründet der Komponist 1975 das erste nationale Jugendorchester. Mittlerweile ist das außergewöhnliche Projekt längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

 „Er ist es, der die Flamme stets am Leben erhalten hat“, betont auch Di Polo, während er mit seinem alten Auto durch die Straßen Caracas fährt. „Heute kämpfen wir auf dem Felde der Kunst, um eine neue Generation von Kindern und Jugendlichen in Lateinamerika im Ideal der Musik zu vereinen“, verrät der Maestro selbst und blickt lächelnd in die Kamera. Abreus pädagogisches Konzept fördert dabei vor allem soziale Kompetenzen: Respekt, Übernahme von Verantwortung, Solidarität und Gemeinschaftsgefühl.

Dass Musik als angewandte Sozialtherapie dabei Erstaunliches leistet vermittelt der Dokumentarfilm von  Paul Smaczny und Maria Stodtmeier mehr als anschaulich. „El Sistema“ ist ein riesige Familie“, bekennt Gustavo Dudamel. Der 28jährige Dirigent avancierte in kürzester Zeit zum neuen Weltstar. Demnächst wechselt er als Chefdirigent der LA Philharmonic nach Los Angeles. Das Simón Bolivar Jugendorchester gilt als Sensation in der Musikszene. Selbst internationale Größen der Klassik wie Sir Simon Rattle, Dirigent der Berliner Philharmoniker, bezeichnen diese einzigartige Musikausbildung als „weltweit das Wichtigste“, was sich derzeit in der klassischen Musik tut.

Dramaturgisch eingängig aufeinander aufgebaut fasziniert die exzellente Montage des Bild- und Tonmaterials. Genial verschränken teils schnelle Schnittfolgen die spannende Collage aus Konzertausschnitten, Orchesterproben und Momentaufnahmen aus dem Alltag der Kinder und Jugendlichen, ihrer Eltern und den engagierten Lehrern. In Kombination mit der energetischen Orchestermusik bietet „El Sistemo“ einen fulminanten Augen- und Ohrenschmaus.

Nicht zuletzt deshalb steht die emotional bewegende Regiearbeit  in bester Tradition mit der preisgekrönten Dokumentation "Rhythm is it" von Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch. Doch während das Education-Projekt der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle für die Berliner Jugendlichen eine einmalige Ausnahmesituation darstellte, wirkt „El Sistema“ unermüdlich weiter. „Unser Ziel ist es, den Kontinent zu schaffen,“ sagt Abreu, „wie ihn sich Simon Bolivar vorstellte, als Quelle der Hoffnung der Welt“. Und wer sich auf dieses leidenschaftliche Filmerlebnis voller Lebensfreude und Respekt einlässt, zweifelt kaum mehr daran, dass selbst diese Vision Realität werden könnte.

Luitgard Koch

Die venezolanische Hauptstadt Caracas gilt als eine der gefährlichsten Städte der Welt. Etwa fünf Millionen Menschen leben in sogenannten Barrios, eine Art Slums. Die Hälfte davon sind Kinder. Die Gewalt ist überdurchschnittlich und offenbar überall präsent. Schießereien sind an der Tagesordnung. Banden und korrupte Polizeibeamte tragen dazu bei.

Das ist die eine Seite. Caracas und ganz Venezuela haben aber auch das Glück, einen Mann wie den Wirtschaftler, Politiker und Musiker José Antonio Abreu ihr eigen zu nennen. Vor mehr als 30 Jahren hatte er die umwälzende Idee, Kinder mit der Musik aus der Armut herauszuführen. Er gründete Musikzentren, in denen Kinder nicht nur musizieren, sondern auch Disziplin, Gemeinschaftssinn, Selbstachtung und Zukunftsgestaltung lernen. Heute sind fast 200 Zentren mit nahezu 300 000 Kindern tätig. Das Zusammensein und der Musikunterricht beginnen bereits im frühesten Alter, Hörgeschädigte und andere Behinderte nicht ausgeschlossen.

Es ist eine Freude, den Kindern zuzuschauen und zuzuhören, wie sie, oft noch ungelenk und unsicher, Musik machen, wie sie mit Begeisterung dabei sind, wie sie über sich selbst und ihr neues Leben mit der Musik erzählen.

Die Arbeit Abreus hat Früchte getragen. Es gibt bereits anerkannte Jugendorchester, die sogar internationale Konzerte geben.

Der Film dokumentiert dies alles gefühlvoll. Eltern und Lehrer kommen zu Wort, Abreu auch, der ausführlich über die Kunstform Musik und ihre positive Wirkung, über die soziale Verpflichtung, über den sich daraus ergebenden Humanismus und über den pädagogischen Sinn seiner Arbeit doziert.

Es gibt in diesem Dokumentarfilm bewegende Momente, etwa wenn ein Chor ein Ave Maria singt und die Gehörlosen den Chorgesang mit ihren Händen mitgestalten, oder wenn ein Jugendorchester, sicherlich zwischen 150 und 200 Instrumentalisten, groß auftrumpft.

Gutes kunsttheoretisches, pädagogisches, soziales und menschliches Film- und Anschauungsmaterial über ein Projekt, das so stark scheint, dass es sogar ein Land wie Venezuela zum Teil verändern kann. Eine lobenswerte Dokumentararbeit von Paul Smaczny und Maria Stodtmeier.

Thomas Engel