Gordos

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Eigentlich wollte Daniel Sánchez Arévalo Börsenmakler werden. Doch inzwischen gilt der Madrider Regisseur bereits als neuer Almodovar. Und tatsächlich lässt der 39jährige in seinem neuen Film „Gordes“ ebenso exzellent wie Spaniens Starregisseur dramatische wie komische Momente ineinander fließen. Rund um das Thema Dicksein, Körperkult und Schlankheitswahn arrangiert Arévalo ein Netzwerk verschiedener skurril-dramatischer Geschichten, die dicht miteinander verwoben sind.

Webseite: www.arsenalfilm.de

Spanien 2009
Regie und Buch: Daniel Sánchez Arévalo
Darsteller: Antonio de la Torre, Roberto Enriquez, Veronica Sanchez, Raul Arevalo, Leticia Herrero, Fernando Albizu, Maria Morales, Pilar Castro, Adam Jeziersky, Marta Martin
Länge: 120 Minuten
Verleih: Arsenal
Kinostart: 1. Juli 2010
 

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Fett ist eklig, dick sein unerträglich. So lautet das allgemeine Credo unzähliger Werbespots und Diätempfehlungen. Auch der smarte Enrique (Antonio de la Torre) lebt mit seinen Wunderpillen „Kilo away“, die er in seiner Fernsehshow anpreist, nicht schlecht davon. Das ändert sich schlagartig. Denn der agile homosexuelle Entertainer legt etliche Pfunde zu. Damit verliert er samt seinem Selbstvertrauen auch seinen Job. Und so findet er sich frustriert in einer Therapiegruppe wieder. Als der gertenschlanke Therapeut Abel (Roberto Enríquez) verlangt, dass sie zu ihrem Aussehen stehen und sich nackt der Runde präsentieren sollen, ergreift freilich die Hälfte der Teilnehmer schon vor Ende der ersten Sitzung die Flucht.

Die anderen folgen brav seinen Anweisungen. Und nach und nach zeigt sich, dass der ungezügelte Appetit nur die Folge ihrer eigentlichen Probleme ist. Schließlich gilt es mittlerweile als erwiesen, dass nicht wenige Übergewichtige versuchen, durch übermäßiges Essen mit ihren Ängsten, ihrer Trauer, Wut oder Einsamkeit fertig zu werden. So musste sich Leonor (Maria Morales), nachdem ihr Freund für einen Job nach USA ging, mit einer Fernbeziehung abfinden. Aus Frust futtert die attraktive dunkelhaarige IT-Expertin an einsamen Abenden vor ihrem Computer. Ergebnis: zwanzig Kilo mehr. Jetzt plagt sie die Angst ihr Freund könnte sich von ihr trennen, wenn er aus den Staaten zurückkommt. Bis er in wenigen Monaten wieder auftaucht will sie ihr altes Gewicht haben.

Sofias (Leticia Herrero) bigotter Freund Alex (Raul Arevalo) dagegen empfindet ihren Wunsch abzunehmen als ebenso schwere fleischliche Todsünde wie Sex vor der Ehe. Schuldgefühle plagen beide. Kein Wunder. Denn im Katholizismus besteht stärker als in anderen christlichen Religionen ein tief verwurzelter, ritualisierter Umgang mit Schuld. Zumal in Spanien als ein vom Katholizismus geprägtes Land Geschichten, die um die Thematik der eigenen Schuld kreisen, keine Seltenheit sind.

Der dicke gemütliche Familienvater Andrés wiederum fürchtet sich vor den gesundheitlichen Konsequenzen. Denn alle in seiner übergewichtigen Sippe starben mit fünfzig. Um diesem Schicksal zu entgehen will er noch schnell ein paar Kilo verlieren. Zuhause schlemmt der hedonistische Patriarch freilich nach wie vor mit Frau und Tochter genussvoll. Einzig sein dünner Sohn schlägt aus der Art. Als Therapeut Abel angesichts des wachsenden Körperumfangs seiner schwangeren Frau seine Dicken-Phobie nicht länger kaschieren kann, gerät auch seine wohlgeordnete Welt aus den Fugen. Und Enrique taumelt mehr und mehr am Abgrund, nachdem der bekennende Homosexuelle seinen Geschäftspartner im Park aus Versehen schwer verletzt. Schon bald tröstet er dessen Ehefrau und gerät auch hinsichtlich seiner sexuellen Orientierung ins Schleudern.

Geschickt fügt Regisseur Daniel Sánchez Arévalo bei seiner mit schwungvoll inszenierten Studie über Schuld, Angst, Liebe und Leidenschaft durch dynamische Parallelmontagen die einzelnen Handlungsstränge zusammen. Sein Film lebt vor allem von der teilweise grotesken Komik und behutsamen Verflechtung unterschiedlicher Lebenssituationen. Dabei macht er sich in keiner Szene über die Gewichtsprobleme seiner Protagonisten lustig. Wie bereits bei seinem preisgekrönter Erstlingsfilm „dunkelblaufastschwarz“ legt sich der 39jährige Madrilene auch in seinem neuen Werk nicht auf eine grundsätzliche Tonalität fest, sondern verbindet virtuos verschiedene Episoden in ihrer ganz unterschiedlichen, tragischen, dramatischen, sozialkritischen, komischen oder skurrilen Stimmungslage.

Seinen Zuschauern vermittelt der Sohn einer Schauspielerin dadurch intensiv, dass Tragik jederzeit in Komik umschlagen kann und umgekehrt. Und nicht zuletzt das Bewusstsein, dass sich das eigene Leben stets in der Schwebe zwischen beidem befindet. Lange Zeit wurde nur der gefeierte Vertreter des Arthouse-Kinos Pedro Almodovár neben der surrealistischen Regielegende Luis Buñuel als spanischer Regisseur wahrgenommen. Nun steht mit dem verheißungsvollen Newcomer endgültig eine neue Generation von Filmemachern bereit. Wie das einstige Enfant Terrible des spanischen Untergrunds Almodovár versteht sich Drehbuchautor Arévalo darin, dramatische wie komische Momente ineinander fließen zu lassen, wobei die vor allem in den früheren Almodovár-Werken kultivierte Exaltiertheit und schrill-bunte postmoderne Ästhetik diesmal nicht fehlt. Speziell die elegante Kameraarbeit von Juan Carlos Gomez trägt entscheidend dazu bei.

Luitgard Koch

Kürzlich gab es eine Meldung, wonach rund 60 Prozent der Männer in Deutschland übergewichtig seien. Dick sein, fett sein ist also ein Thema mit vielen (auch sozialen) Auswirkungen. Autor und Regisseur Daniel Sanchez Arévalo hat sich des Themas angenommen.

Eine Gruppe dicker Menschen macht eine Therapie. Der Therapeut war einst selbst fett, doch er hat mit Zähigkeit alles überwunden. Nun will er den anderen helfen. „Kilo Away“ heißt die Devise (und heißen die entsprechenden Pillen).

Aber der Lehrer hat ein gravierendes Problem: Als nämlich seine Frau Paula schwanger und damit dicker wird, entwickelt er dagegen eine Phobie und macht ihr das Leben zur Hölle.

Dann ist da Alex. Seine Frau Sofia will er im kommenden Jahr heiraten. Die junge Frau ist ganz schön füllig. Aber Alex ist derart bigott, dass er erstens vor der Ehe keinen Sex will, und auch dass Sofia eine Therapie gegen ihr Gewicht machen möchte, betrachtet er zweitens als Sünde.

Enrique mit seinem Bauch ist homosexuell. Nach einem Streit mit seinem Partner Jesus, der stirbt, wird er von dessen Frau Pilar begehrt. Er ist hin und her gerissen, trinkt, verfällt in Überreaktionen, beredet immer wieder alles mit dem Therapeuten, sucht Rat bei diesem.

Die attraktive Leonor ihrerseits weiß nicht, ob sie als fett gilt oder nur als übergewichtig.

Nicht zu vergessen die Familie, in der der Vater, die Mutter sowie die Tochter Nuria – nicht jedoch der von einem Seitensprung der Frau herrührende Sohn – so leben, als würden sie um das Lebendgewicht wetteifern. In der Verwandtschaft des Vaters waren die meisten derart dick, dass sie nicht einmal 50 Jahre alt wurden.

Die Mitglieder der Therapiegruppe sind fett. Dann dünner. Dann wieder dick. Sie lieben sich, sie streiten sich, sie haben mit ihrem Äußeren Probleme. Doch nicht nur mit dem Äußeren. Ihre daraus resultierenden Widersprüchlichkeiten und Gegensätzlichkeiten hören nicht auf. Bis zum – meist – guten Ende sind schreckliche Kämpfe vonnöten.

Regisseur Daniel Sanchez Arévalo hat aus dem Stoff, dem es an Aktualität wahrlich nicht mangelt, ein dicht verwobenes und verschachteltes, manchmal zu überspitztes, bestens gespieltes Stück gemacht. An Metaphorik, etwas Humor und viel Dramatik fehlt es nie. Und: Es ist eine Menge Menschliches und Reales daran. Einer ganzen Reihe von Leuten würde es nicht schaden, sich den Film vor Augen zu führen.

Der Regisseur: „In diesem Film versuchte ich, die Person hinter jeder Figur aufzudecken. Und die Aufgabe des Zuschauers ist es, Szene für Szene die vielen schützenden Schichten abzutragen, hinter denen sich die Protagonisten verstecken. Den Panzer abzunehmen, der vor äußeren Aggressionen schützen soll. Das Ziel ist, diesen ‚Betrüger’ zu entlarven, der sich im Grunde nur selbst betrügt.“

Thomas Engel