Große Erwartungen

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Was für Bilder! Was für Schauspieler! Für solche Filme wurde das Kino erfunden: Charles Dickens schrieb die dramatische Geschichte vor mehr als 150 Jahren: Der arme Waisenjunge Pip wird reich und steigt auf zum Gentleman, verliert alles und gewinnt doch am Ende das, was wirklich wichtig ist im Leben: seine große Liebe und die Erkenntnis, dass man lieber arm und anständig bleiben sollte, wenn Reichtum bedeutet, skrupellos und egozentrisch zu werden.
Wer ins Kino geht für einen ultimativen Augen- und Ohrenschmaus, der ist hier genau richtig – ebenso alle, die Charles Dickens und seinen unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen lieben. Ganz großes literarisches Kino! Auch und gerade für ein Publikum, das neugierig ist auf englische Klassiker und wunderbare Stars.

Webseite: www.grosseerwartungen.senator.de

Originaltitel: Great Expectations
UK 2011/2012
Regie: Mike Newell
Drehbuch: David Nicholls
Darsteller: Jeremy Irvine, Ralph Fiennes, Helena Bonham Carter, Holliday Grainger, Robbie Coltrane, Ewen Bremner, Sally Hawkins
Länge: 128 Minuten
Verleih: Senator
Kinostart: 13.12.2012

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Charles Dickens und seine Werke gehören im englischen Sprachraum zu den absoluten Klassikern. In Deutschland ist der große Moralist mit seiner unbeirrbaren Menschenliebe weniger bekannt. Vollkommen zu Unrecht! „Great Expectations“ – „Große Erwartungen“ ist einer seiner reifsten, schönsten und spannendsten Romane. Der Ausdruck „Verfilmung“ würde hier beinahe abwertend wirken. Also: Dieses wunderbar humorvolle, weise und spannende Werk wird nun kongenial im Kino präsentiert, als bildgewaltiges und ästhetisch beeindruckendes Panorama einer Epoche und als zeitloses Drama um Armut und Reichtum, Aufstieg und Absturz, Anstand und Skrupellosigkeit.

Der krachend arme Waisenjunge Pip, ein ziemlich pfiffiger und hilfsbereiter Bursche, lebt auf dem Lande im Haus seiner fiesen Tante und ihres gutmütigen Mannes. Am Grab seiner Mutter trifft er auf einen entflohenen Sträfling und hilft ihm, ohne zu ahnen, dass dieser erschreckend verwilderte Mensch eines Tages eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen wird. Pip lernt die hübsche Estella kennen, die im Schloss der geheimnisvoll gespenstischen Miss Havisham lebt, und hat nun ein Ziel: Er will ein Gentleman werden und so zum standesgemäßen Partner für Estella. Durch einen unbekannten Gönner gelangt Pip zu Reichtum und ist sicher, das Geld käme von Miss Havisham. Pip geht voller Optimismus nach London und mischt gleich mit in den Clubs und Kneipen, wo sich die dekadente Schickeria nach Kräften amüsiert. Er wirft mit Geld um sich, verleugnet seine Vergangenheit als Ziehsohn eines armen, anständigen Schmieds und erfährt schließlich, dass seine großen Erwartungen an das Leben vollständig enttäuscht wurden: Das Geld, dem er seinen Wohlstand verdankt, stammt von dem ehemaligen und noch immer gesuchten Sträfling, und Estella heiratet seinen größten Feind. Erst als er alles verloren hat, kommt Pip wieder zur Vernunft und findet darüber sein Glück.

Mike Newell hat den Klassiker mit viel Schwung, Spannung und Humor aufwändig verfilmt und zeigt ein viktorianisches England zwischen Landschaftsidylle, bröckelnden Traditionen und Industrialisierung – mal zauberhaft schön, mal geheimnisvoll, oft romantisch und dann wieder mit dem nüchternen Blick des Realisten, stets fern von jeder schwülstigen Romantik oder schmonzettigen Trivialität. Das passt sehr gut zu der facettenreichen Geschichte von Pip und seinen fehlgeleiteten Ambitionen, die letztlich doch etwas Gutes bewirken, weil er daraus lernt. Das fantastische Drehbuch hat David Nicholls geschrieben. Mit beißender Ironie, also in bester Dickens-Tradition, beschreibt Nicholls die herrschende Klasse der mehr oder weniger vertrottelten Adligen und Geldsäcke und liefert dazu messerscharfe Dialoge mit Witz und Geist.

Nicholls gelingt das beinahe Unglaubliche: Er fasst die verzwickte, spannende Handlung mit ihren vielen Nebenfiguren geschickt zusammen und lässt Raum für viele originelle Details und für die immer noch zeitlos spannende Kriminalgeschichte, die im Film so ganz nebenbei erzählt wird: Die Geschichte der verlassenen Braut Miss Havisham entpuppt sich als Schlüssel für gleich mehrere Verbrechen. Sie wurde am Tag ihrer Hochzeit wahnsinnig und schwor den Männern Rache. Als elfenhaft gespenstische Hexe sitzt sie 20 Jahre später noch immer im Hochzeitskleid inmitten der vormals festlich dekorierten Säle und erzieht Estella zu einer berechnenden Frau, die jeden Kerl um den kleinen Finger wickelt. Helena Bonham Carter spielt Miss Havisham als zerstörte, zynische Fee, die über ihr einsames Reich herrscht und langsam an sich selbst zugrunde geht. Das ist absolut großartig! Unvergesslich auch Ralph Fiennes, der den Magwitch spielt: ein geläuterter Verbrecher, der seine Schuld wiedergutmachen will. Ohne Schnickschnack, allein mit der Ausdruckskraft seiner wunderbaren Stimme schafft Fiennes eine Atmosphäre tiefster Melancholie, in der ein Hauch von Hoffnung über der Tragik weht. Der junge Jeremy Irvine zeigt als Pip die beherzte Darstellung eines jungen Mannes zwischen Lebenslust und Lebensfrust: einer, der sich für klug hält und eigentlich ein Trottel ist, aber – ganz im Sinne von Charles Dickens – lernwillig und deshalb fähig zum Glück. Holliday Grainger spielt Estella als wunderhübsche, zarte Grazie, die unter ihrer Unfähigkeit zu lieben leidet, was natürlich ein ganz gutes Zeichen ist dafür, dass sie eines Tages ihre Gefühle entdeckt. Und so kommt es dann auch, allerdings sehr unerwartet, sehr romantisch, dennoch nicht gefühlsduselig – und darum besonders schön.

Noch ein Tipp zum Abschluss: Wenn möglich sollte man diesen Film in der Originalfassung sehen, um die großartigen Stimmen der britischen Schauspieler richtig genießen zu können.

Gaby Sikorski

Zugrunde liegt ein Roman von Charles Dickens.

Pip ist auf dem Land in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Als Kind begegnet er einmal in ziemlich furchterregender Weise einem Sträfling, der in seinem späteren Leben eine nicht unbedeutende Rolle spielen wird. Er lebt noch bei seiner älteren Schwester, die ihn aber selten behandelt, wie man ein Kind behandeln sollte. Sie ist die Frau eines Schmieds, der zu Pips Freund wird.

In noch jungen Jahren, etwa denen der beginnenden Pubertät, wird Pip von der exzentrischen, krankhaften, narzisstischen Miss Havisham als eine Art Hausgeist engagiert. Er soll ihr und ihrer Pflegetochter Estella Gesellschaft leisten. Miss Havisham ist vom Leben nämlich tief enttäuscht. Am Tag ihrer Hochzeit wurde sie sitzen gelassen. Sie erzieht Estella deswegen eher zu Hochmut, Unnahbarkeit und Gefühlskälte. Deswegen tut sich Pip mit Estella schwer, die er zu lieben beginnt – auch wenn zarte Momente zwischen den beiden nicht fehlen. Im Grunde werden die beiden jungen Menschen durch die Ambitionen der Erwachsenen entstellt.

Der Standesunterschied zwischen der Havisham-Familie und Pip ist zu groß. Dieser setzt deshalb alles daran, in London ein Gentleman zu werden. Das scheint auch in Erfüllung zu gehen, als Pip plötzlich durch einen unbekannten Wohltäter vermögend wird.

Doch es gibt auch immer wieder unschöne Momente: als Miss Havisham seine Besuche plötzlich nicht mehr wünscht; als ihn in der Hauptstadt sein Onkel Joe besucht und Pip sich für dessen Manieren und seine eigene Herkunft schämt; als Estella ihm ihre Unfähigkeit zu lieben erklärt; als Pip erfährt, dass sein Vermögen von dem Sträfling Abel Magwitch stammt, mit dem er früher eine Begegnung hatte.

Was ist unter diesen Umständen sein Vermögen noch wert? Pips Welt gerät aus den Fugen. Außerdem wird zu keinem Zeitpunkt sicher, ob und dass Pip und Estella ein Paar werden.

Der Roman ist der Grundton, auf dem die vielen Charaktere einzeln und umfassend herausgeformt werden und aus deren jeweiliger Perspektive die Entwicklung der Geschichte gezeigt wird. Dickens’ Roman und die Epoche, in der sich alles abspielt, muss man mögen, sicher ist aber, dass Regisseur Mike Newell stilistisch etwas ganz Besonderes gelungen ist.

Das gilt schauspielerisch auch für die Akteure: für den Pip des Jeremy Irvine, für den Magwitch von Ralph Fiennes, für die Miss Havisham von Helena Bonham Carter, für die Estella von Holliday Grainger, für den Anwalt Mr. Jaggers von Robbie Coltrane oder für die Mrs. Joe von Sally Hawkins.

Thomas Engel