Iberia

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Meisterlich! Mit "Iberia" zeigt sich Carlos Saura ("Carmen") auf dem Höhepunkt seiner Kunst. Die Betonung liegt auf "seiner", denn niemand zeigt Tanz so atemberaubend bewegt in sich immer wieder verändernden Räumen. So erleben wir Meister des Flamenco kongenial in Bewegung und Szene gesetzt vom spanischen Meister des Tanzfilms.

Webseite: www.mfa-film.de

Spanien 2005
Regie und Buch: Carlos Saura
Choreografie: José Antonio
Musik: Roque Baños
Tontechnik: Alfonso Pino
Schnitt: Julia Juániz
Kulissen & Ausstattung: Carlos Saura
Kamera: José Luis López Linares
Produzent: Alvaro Longoria
Darsteller: Sara Baras, Manolo Sanlucar, Antonio Canales, Aida Gomez, Enrique Morente, Estrella Morente, Rosa Torres-Pardo, Jose Antonio, Chano Dominguez, Jorge Pardo, Gerardo Nunez, Patrick De Bana, Miguel Angel Berna
Länge: 91 Min
Verleih: MFA+ FilmDistribution
Kinostart: 25.05.2006

PRESSESTIMMEN:

ine von Isaac Albéniz’ gleichnamiger Suite inspirierte musikalische Reise durch unterschiedliche Regionen Spaniens ohne Anspruch auf ethnische Authentizität, die vom Wechsel visueller und musikalischer Rhythmen lebt, scheinbar Unverbindbares verbindet und ein vielschichtiges Porträt spanischer Identität vermittelt. Die Stilisierung der einzelnen Regionen funktioniert durch die hervorragende Bildgestaltung, das Spiel mit Spiegeln, Farben, Licht und Schatten, vor allem aber durch Tanz und Musik, wobei Carlos Saura die großen Meister des Flamenco zusammenbringt.
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FILMKRITIK:

Der über 70 Jahre alte Saura (geb. 4. Januar 1932 in Huesca, Aragon) war schon immer fasziniert vom Flamenco. "Bodas De Sangre" (1981), "Carmen" (1983), "El Amor Brujo" (1985), Sevillanas (1991) und vor allem der "Iberia" ähnelnde "Flamenco" (1995) leben von dieser Musik. "Iberia" nun ist eine Reise durch Klanglandschaften Spaniens. Leitfaden und titelgebend für den Film sind Kompositionen des spanischen Pianisten und Komponisten Isaac Albéniz (1860-1909), einer Leitfigur in der Hervorbringung eines nationalen Stils in der Musik Spaniens. Zu seiner Musik, die er für Klavier geschrieben hat, zählen die vier Teile der Suite „Iberia".
 

Die Vereinigung von klassischem Ballet, zeitgenössischem spanischen Tanz und vielen Flamenco-Variationen ist einerseits Dokumentation, dann wieder höchst artifizielles Kunstwerk. Gleich zu Anfang eine der komplexesten der zahlreichen Szenen: Das Klavierspiel, die Tänzer, das Aufnahmeteam, Projektionen auf Vorhänge - alles fügt sich vermittels Fahrten, Schwenken, dem Kran und bewegten Spiegeln harmonisch in ein Bild, eine Sequenz. Es sind "mise en scene"-Meisterstücke und gleichzeitig betörende Leinwand-Gemälde.

Saura sagte zur Inszenierung von Tanz für den Film: "Beide Elemente hängen intrinsisch zusammen. Die Idee einer ‚lebenden' Szenerie, einem Raum, der unter Verwendung von Trennwänden sein Volumen verändert, der sich dem Moment, dem Tanz und den beteiligten Musikern anpasst, hat ihren Ursprung in meiner Einstellung, dass jedes „atrezzo" oder jede Requisite die Aufmerksamkeit vom Kern der Darbietung, dem Künstler, abzieht. Das Hauptproblem bei der Adaption von Tanz für das Kino ist, dass es hier unmöglich ist, zwei Aktionen zur selben Zeit zu ‚sehen'. Ganz anders beim Theater, bei dem es leicht ist, von einer Stelle, an der gerade eine Aktion stattfindet, auf eine andere überzugehen und dennoch zwei vermeintlich ‚gleichzeitige' Momente wahrzunehmen. Das Auge ist die beste Kinokamera, die je erfunden wurde.  In der cinematografischen Realität ist es nicht möglich, so frei zwischen zwei Orten zu wechseln. Hier muss man eine Wahl treffen, und dies resultiert immer in einer der schmerzvollsten Entscheidungen: Welches szenische Fragment bleibt im Kasten und welches soll auf der Leinwand bleiben? Aber es eröffnet sich eine neue Welt durch die Videoprojektionen auf den Trennwänden."

Dieses "mise en scene" verwandte Saura auch in seiner fiktiven Filmbiographie "Goya in Bordeaux" (1999). Doch hier scheint er ganz in seinem Element: "Wieder einmal stehe ich der magischen Kombination von Musik und Kamera gegenüber, die mich so fasziniert und die ihren Zenith beim Musical erreicht. Obwohl diese filmische Form auch auf anderer Weise umgesetzt werden kann, so bevorzuge ich doch diese reine Form, die frei ist von künstlichen narrativen Aspekten."

"Iberia" zeigt erstklassige Tänzer und Choreographen wie Sara Baras, Antonio Canales, José Antonio, Aida Gómez und Patrick De Bana. Unter den Musikern befinden sich Größen wie die Gitarristen Manolo Sanlúcar, Gerardo Núñez und José Antonio Rodríguez, die Pianisten Rosa Torres Pardo und Chano Domínguez, der Flamenco-Jazz-Star Jorge Pardo sowie der großartige Sänger Enrique Morente und seine außergewöhnliche Tochter Estrella Morente. Die Abfolge von Einzelszenen bleibt spannend, auch weil Saura immer wieder kleine Prologe einflicht, in dem die Tänzer sich kurz vorbereiten, tief durchatmen, Spannung im Körper aufbauen. Immer wieder lösen die losen Szenen Gänsehaut, Rührung und Bewegungslust aus. "Iberia" geht ins Blut, in die Füße, die Hände. Das so eigentümliche Klatschen des Flamenco geht über in den Beifall des Herzens.

Auch wenn Ibera hochgradig stilisiert wirkt, erfordert Flamenco wie der Jazz eine besondere Aufnahmetechnik: "Flamenco-Tänzer wissen nicht genau, warum ihr Tanz sich plötzlich gut und richtig anfühlt und sie 10 Minuten später nicht mehr diesen Punkt erreichen können. Es gibt keine Regeln für ihre Kunst, sie kann nicht standardisiert werden. Deshalb ist es in diesen Fällen unsere Pflicht, immer ohne Verzögerung zu reagieren, sobald die Magie erscheint. Es ist mein Job, dafür zu sorgen, dass die Kamera nicht bloß illustriert, was vor ihr geschieht, sondern mein Auge, meine Sichtweise, meine Wahrnehmung davon ist, wie Tanz gesehen werden sollte." (Saura)

Die Spannweite der musikalischen Stimmungen, Stile wie auch der inszenatorischen Varianten ist enorm: Mit dem Namen Cordobas, der ehemalige Stadt der drei Weltreligionen, ist eine fast graphische Episode betitelt: Schwarze arabische Schleier begegnen weißen Nonnengewändern, Schattenrisse und unendlich blauer Himmel bei drohend tiefem Bass. In "Almeria" ein jugendlicher Hahnenkampf, Gangs beeindrucken sich mit Flamenco, der in einem kleinen Drama Liebe, Eifersucht und Konkurrenz mit Michael Jackson-Einlagen und Break Dance verkörpert. Dann zu "El Albaicin" ganz moderner Tanz, das erschreckend faszinierende Solo-Duett einer Frau (Marta Carrasco) mit Plastikfolien. Ein stiller Kampf mit lautlos lauten Schreien. Selbstverständlich auch einige der Varianten des gängigen und bei uns doch weitgehend unbekannten Flamenco: Gitarre, Gesang, Tanz, Explosionen purer Leidenschaft.

Obwohl der Film für nicht mal drei Millionen Euro gänzlich im Studio gedreht wurde, zaubert Saura auch mal ein Lagerfeuer, mal ein veritables Gewitter in all die Künstlichkeiten der Sets. Doch ein magisch echter Moment in all der Inszenierung ist die im Film festgehaltene Frage einer perfektionistischen Tänzerin: "Otra vez, no?" (Machen wir es besser noch einmal?) Es ist zu hoffen, dass nicht nur ein speziell an Musik, Flamenco und höchster Filmkunst interessiertes Publikum aufschreit: Noch einmal!

Günter H. Jekubzik