Klasse, Die (Entre les Murs)

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Laurent Cantets „Die Klasse“, Gewinner der diesjährigen Goldenen Palme, ist ein klassisches Dokudrama, das lose fiktionalisierte Ereignisse mit dokumentarisch anmutenden Aufnahmen einer Schulklasse in einem Pariser „Problembezirk“ verbindet. Ein überaus sehenswerter Film, der vor allem durch seine ambivalente Darstellung der Lehrerfigur und den Verzicht auf das suggerieren einfacher Antworten und Lösungsvorschläge überzeugt.

Webseite: www.concorde-film.de

Regie: Laurent Cantet
Buch: Laurent Cantet, François Bégaudeau, Robin Campilo, nach dem Roman von François Bégaudeau
Kamera: Pierre Milon, Catherine Pujol, Georgi Lazarevski
Schnitt: Robin Campillo, Stéphanie Léger
Darsteller: François Bégaudeau, Nassim Marabt, Laura Baquela, Cherif Bounaidja, Juliette Demaille, Dalla Doucoure
Frankreich 2008, 128 Minuten, Format: 1:2,35 (Scope)
Verleih: Concorde
Kinostart: 15. Januar 2009

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Ausgangspunkt des Films war die Veröffentlichung von François Bégaudeaus Tatsachenroman „Entre les Murs“, dessen Titel („Gegen die Mauern“) die doppelte Schwierigkeit der Situation andeutet. Nicht nur die Mauern des Desinteresse der Schüler, die sich lieber mit Handys und Nagellack beschäftigen, als mit französischer Literatur, wollen eingerissen werden, sondern auch die des Systems an sich, das Schüler mit so genanntem Migrationshintergrund all zu oft von vorneherein nicht für voll nimmt. Es ist die größte Stärke des Films, dass die Lehrerfigur – die Co-Drehbuchautor François Bégaudeau nicht nur selbst spielt, sondern die auch noch François heißt, auch wenn man hier wohl zwischen Autor und Filmfigur differenzieren muss – eine zutiefst zwiespältige Person ist.
 

François ist Lehrer in einer Schule im 20. Pariser Bezirk, einer sozial schwachen Gegend, in der die Schüler seiner 7. Klasse dementsprechend bunt gemischt sind. Ein Schuljahr lang begleitet der Film die Klasse in lose strukturierten Szenen, die nach und nach Handlungslinien offenbaren. Über weite Strecken sieht man jedoch improvisierte Szenen, in denen die schauspielernden Schüler Variationen ihrer selbst sind. Mit drei Kameras gleichzeitig gefilmt, stets die Schüler auf der rechten Seite der Leinwand haltend, den Lehrer auf der linken, fast ausschließlich in Nah- oder Halbnahaufnahmen gefilmt, entsteht eine erstaunlich authentisch wirkende Atmosphäre. Zwar hakt der Film bisweilen die bei diesem Thema erwartbaren Konflikte ab, prinzipiell ist er jedoch augenscheinlich (und in einigen Momenten auch zu offensichtlich), um eine differenzierte Darstellung der Situation bemüht. So ist François alles andere als eine idealisierte Lehrerfigur, die sich mit großem Einsatz bemüht, den renitenten Schülern Wissen Nahe zu bringen. Zwar merkt man, dass es François wichtig ist, seine Schüler zu erreichen, ihnen den Konjunktiv beizubringen, sie mit der Geschichte Anne Franks vertraut zu machen, aber ebenso merkt man eine unterschwellige Selbstgefälligkeit in seinem Wesen. Prinzipiell hält er sich für überlegen, lässt sich immer wieder auf bissige Diskussionen ein, bei denen er glaubt zu gewinnen, bei denen der Zuschauer jedoch sieht, dass die Schüler wesentlich reflektierter sind, als ihnen im allgemeinen, und auch von der im Film dargestellten Lehrerschaft, zugetraut wird. Zwar werden auch die Schwierigkeiten, denen sich ein Lehrer im Umgang mit von Machoritualen geprägten Jugendlichen gegenübersieht nicht ausgespart, immer wieder aber sieht man auch heuchlerische Momente der Lehrer, die mit zweierlei Maß messen und sich selbst über ihre Schüler erheben. Gerade in der zweiten Stunde des Films kommt dies besonders zum tragen, wenn sich ein Konflikt zwischen François und dem aus dem Mali stammenden Schüler Souleyman immer stärker zuspitzt und schließlich auch François seine kontrollierte Oberfläche nicht mehr aufrechterhalten kann. Doch auch hier bietet der Film keine Lösung an, enthält sich jeder Wertung des Verhaltens der Lehrer, wie auch der Schüler.

So ist „Die Klasse“ vor allem ein Film, der zu Diskussionen über die Missstände des Schulsystems anregt und weniger ein Film, der Lösungen aufzeigen will. Er zeigt die Zustände in einer „Problemschule“ – zwar einer französischen, doch die Ähnlichkeit zu vergleichbaren deutschen Schulen dürfte hoch sein – mit viel Sympathie für die Schüler und kritischem Blick auf die Lehrer. Wenn die in einer Konferenz die Diskussion über einen unliebsamen Schüler kurz halten, um über eine kaputte Kaffeemaschine zu sprechen, ist das zwar nicht besonders subtil, dürfte aber Nah an der Realität in den Lehrerzimmern sein. Und selbst wenn er nicht noch viel mehr zu sagen hätte, würden allein diese Einblicke „Die Klasse“ schon zu einem interessanten Film machen.

Michael Meyns

Eine französische Schulklasse. So um die 14 bis 15 Jahre alt werden die Schüler sein. Das Hauptcharakteristikum des Jahrganges: gemischt, gemischt, gemischt. Weiße, Schwarze, Franzosen, Ausländer, Christen, Muslime. Auch ein Asiate ist dabei. 

Francois Marin ist der Lehrer. Er gibt (französischen) Sprachunterricht. Ob er es mit schwer verständlichen Wörtern oder mit Dichtung versucht, auf großes Echo stößt er nicht, obwohl er behutsam, idealistisch und sehr verständnisvoll vorgeht.

Jeder Schüler soll eine Autobiographie abfassen. Einige machen gut mit, einige aber sind renitent, bockig, teenagerhaft eben. Sie wollen, dass ihre eigene Sprache stärker berücksichtigt wird, sie weigern sich vorzulesen, sie sabotieren die Arbeit Marins. 

Der zeigt eine Menge Aufnahmebereitschaft, Diplomatie und Geduld. Er verteidigt beim Direktor selbst Übeltäter. Aber zuviel ist zuviel. Am Ende beschließt die Lehrerkonferenz und Disziplinarkommission, dass ein Schüler die Schule verlassen muss.

Ein Problem, das bei weitem nicht auf Frankreich beschränkt ist. Es betrifft in der globalisierten Welt viele Länder. Hier wird es realistisch, glaubhaft und Anteilnahme weckend abgehandelt. Beide Seiten kommen zu Wort, und beide Seiten – das ist das Dilemma – scheinen recht zu haben. 

Ein Spielfilm mit dokumentarischem Charakter. Nicht in erster Linie Unterhaltung bietend, sondern Problematik aufzeigend. Jedoch lebendig inszeniert. Francois Bégaudeau (Francois Marin), Esmeralda Quertari, Rachel Regulier und Franck Keita heißen die Schauspieler, die gut agieren und die zusammen mit Regisseur Laurent Cantet in Cannes die Goldene Palme gewannen.

Thomas Engel