Shortbus

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New York nach 9/11. John Cameron Mitchell (Hedwig and the Angry Inch) lässt in der Stadt, die niemals schläft, Charaktere voller Obsessionen und Sehnsüchte in einem extravaganten Szene-Nachtclub mit Namen Shortbus aufeinander prallen. Während einige ihre Erfüllung in ekstatischem Gruppensex und Partnertausch finden, drohen andere an der Suche nach ihrem eigenen Glück zu zerbrechen. Mitchell drehte eine radikale Bestandsaufnahme großstädtischen Lebens, die über weite Strecken zu faszinieren weiß.

Webseite: www.senator.de

USA 2006
Regie:  John Cameron Mitchell
Buch:  John Cameron Mitchell, Story entwickelt mit den Schauspielern
Kamera: Frank G. DeMarco
Schnitt: Brian A. Kates
Musik: Yo La Tengo
Darsteller: Sook-Yin Lee, Paul Dawson, Lindsay Beamish, PJ DeBoy, Raphael Barker, Jay Brannan, Peter Stickles
Kinostart: 19. Oktober
Verleih: Senator

PRESSESTIMMEN:

Eine Filmreise ins Wunderland der körperlichen Liebe... Ohne Scheu vor pornografischen Bidlern, aber mit umwerfendem Charme...
Ein filmreifes Vergnügen. (...) ein gutgelauntes, amüsantes, nur manchmal ein bisschen naives Plädoyer für die sexuelle Selbstverwirklichung (...), in dem es gleich am Anfang wild und kurios zur Sache geht.
Der Spiegel

Hart, heftig und humorvoll.
Focus


FILMKRITIK:

Jeder ist eine Insel, jeder lebt und stirbt für sich allein. Es ist ein Gefühl der Verlorenheit, das den Videokünstler Jamie (Paul Dawson), der selbst James genannt werden möchte, bestimmt. Zuletzt haben die Spannungen in der langjährigen Beziehung zu seinem Freund Jamie (PJ DeBoy) merklich zugenommen, ihre Partnerschaft und Sexualität droht einzuschlafen. Aus diesem Grund suchen beide die Paartherapeutin Sofia (Sook-Yin Lee) auf. Deren Sexleben ist jedoch keineswegs so erfüllt, wie es zunächst den Anschein hat. Trotz ausgefallener Stellungen und Techniken mit ihrem potenten Mann Rob (Raphael Barker) hat sie noch nie einen Orgasmus erleben dürfen. Es sind Jamie und James, die als erste diese Wahrheit von ihr erfahren. Sie beschließen, Sofia in den angesagten Nachtclub Shortbus einzuladen, wo sich ihre Wünsche endlich erfüllen sollen. Dort lernt Sofia die als Domina arbeitende Severin (Lindsay Beamish) kennen. Viel lieber, als Männer für Geld zu erniedrigen, würde sie ihre auf Polaroid gebannten Alltagsfotografien verkaufen. Eine respektierte Künstlerin zu sein, danach sehnt sie sich. Und nach einem Partner, der sie versteht

Drei Handlungsstränge verwebt Regisseur und Autor John Cameron Mitchell zu einem urbanen Kaleidoskop, dessen beiläufige Konstruktion nicht zufällig an die Episodenstücke eines Robert Altman ("Short Cuts") und Paul Thomas Anderson ("Magnolia") erinnern. Mit Andersons Dramen verbindet "Shortbus" zudem der effektive und stimmungsvolle Einsatz von Originalmusik. Melancholische, gefühlvolle Stücke von Yo La Tengo, Azure Ray und dem Songwriter Scott Matthew, der auch im Film als Musiker zu sehen ist, kommentieren das Innenleben von Mitchells Figuren, unaufdringlich und angenehm zurückhaltend.

Dafür legt Mitchell beim Thema Sex jede in diesem Kontext falsche Zurückhaltung ab. Explizit, ohne pornographisch zu sein, stellt "Shortbus" die unterschiedlichsten sexuellen Spielarten dar. Masturbation, orale Selbstbefriedigung (!), Gruppensex, Kama Sutra, ob gleichgeschlechtlich oder hetero, alles ist möglich. Das geht weit über das hinaus, was in Larry Clarks oftmals angefeindeten Jugenddramen zu sehen war. Für Kontroversen dürfte mit Sicherheit ein schwuler Dreier sorgen, bei dem ein erregierter Penis als Mikrofonersatz genutzt wird, um sogleich mit voller Inbrunst die amerikanische Nationalhymne zu intonieren. Dabei ist Mitchell nur konsequent. Er zeigt lediglich das, worüber seine Protagonisten reden, worüber sie sich den Kopf zerbrechen. Eine erfüllte Sexualität, Nähe und Intimität bestimmen ihr Denken.

Vermutlich muss sich "Shortbus" mit dem Schicksal abfinden, auf seine Sexszenen reduziert zu werden. Das wäre ein echtes Ärgernis, bietet der Film doch eine atmosphärisch dichte und ungefilterte Bestandaufnahme des Post 9/11-Lebensgefühls einer verunsicherten und an sich selber zweifelnden Generation. Das mit den Darstellern in mehreren Workshops erarbeitete Skript und die natürlichen teilweise improvisierten Dialoge, die niemals in selbstgefällige Geschwätzigkeiten ausarten, verleihen Mitchells Arbeit einen faszinierenden realistischen Anstrich. Mit Ausnahme der letzten zehn Minuten, in denen Mitchell sich einer Überdosis „Heile Welt“-Kitsch hingibt, gelingt ihm auf diese Weise eine tragische wie überraschend humorvolle Annäherung an ein schwieriges Sujet. Der unverkrampfte Umgang mit Sexualität bleibt positiv in Erinnerung, ohne dabei alles zu dominieren. Mitchell selber bestätigt nach vielen Gesprächen mit Zuschauer diesen Eindruck: „Die meisten Leute erzählen mir, dass sie all den Sex bereits vergessen haben, wenn er Film zu Ende ist. Sex ist nur ein Aspekt, ein Pinselstrich im Leben meiner Figuren.“ Dazu findet er in einer Szene das passende Bild. Ein Freier ejakuliert auf ein expressionistisches Gemälde. Mit einem Schritt Abstand löst sich das Sperma in der Struktur des Bildes auf - für unsere Augen nicht mehr zu erkennen.

Marcus Wessel