Eric Rohmers südfranzösisches Laisser-faire erreicht die
norddeutsche Ostseeküste: Moderne Menschen verschiedener Generationen führen an einem unspektakulären Urlaubsort zeitgemäße Gespräche. Sie gehen segeln, verlieben und streiten sich. Auch ein tragischer Unfall ändert wenig an dem nonchalanten Umgang miteinander. Stefan Krohmers beschauliches und beklemmendes Drama zeigt Schuld ohne
Sühne, da die Schuldgefühle in einer Art Hyper-Toleranz
verdampfen. „Sommer ‘04“ mit Martina Gedeck in der Hauptrolle gehörte zu den wenigen deutschen Beiträgen beim diesjährigen Festival von Cannes.
Webseite: www.alamodefilm.de
D 2006
Regie: Stefan Krohmer
Buch: Daniel Nocke
Darsteller: Martina Gedeck, Robert Seeliger, Peter Davor, Svea Lohde, Lucas Kotaranin
Verleih: Alamode Film
Länge: 97 Min.
Festivals: Cannes 2006 (Quinzaine des Réalisateurs), Toronto 2006
PRESSESTIMMEN:
…beschreibt einen Familienurlaub mit erotischen Wirrungen. Regisseur Stefan Krohmer schickt ein Paar um die 40 mit pubertierendem Sohn und dessen Freundin an die Ostsee. Doch die gelöste Stimmung weicht, als ein mysteriöser Amerikaner die beiden Frauen lässig-charmant umgarnt. Mit scharfem Blick beobachtet Krohnerr, wie sich die Spannungen zwischen den Figuren aufbauen und sie zunehmend die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren. Und doch besitzt der Film bis zum Ende die Leichtigkeit einer unbeschwerten Sommerfrische.
Der Spiegel
Hervorragend gespielt und eindrucksvoll fotografiert, verbindet der anspielungs- und bedeutungsreiche Film die Nonchalance und Beiläufigkeit des französisches Kinos mit einer tiefgründigen Reflexion über das Sexuelle als treibende Kraft im menschlichen und sozialen Leben sowie das Schweigen und die Unaufrichtigkeit im Umgang der Generationen. – Sehenswert.
film-dienst
Stefan Krohmers subtiles Drama erinnert in seinen besten Momenten an die französischen Filme der "nouvelle vague".
Brigitte
FILMKRITIK:
Wie zufällig gleitet die Kamera in eine private Szenerie.
Halbverschlafene Menschen bewegen sich in verwaschener Baumwolle
durch ein Klinkerstein-Sommerhaus in der weitläufigen Ebene an der
Schleimündung. Wäsche im Wind aufhängen, Zähne putzen, ein paar
Worte wechseln, ins Bett gehen. Eine diffus-morbide, intime und
betont normale Stimmung. Himmel, ist das alles voll entspannt hier.
So entspannt, dass der 16-jährige Sohn Nils (Lucas Kotaranin) auch
überhaupt nichts daran zu mäkeln hat, wenn seine 12-jährige
Freundin Livia (Svea Lohde, „Rosenstraße“) den ganzen Tag mit dem
gutaussehenden, 26 Jahre älteren Amerikaner Bill (Robert Seeliger)
segeln geht. Lässig wehrt er die Fragen seiner Eltern ab: „Na und?
Ich schätze, sie poppen.“ Der lethargische Jüngling widmet sich
lieber seinen Büchern, ganz der bornierte Schöngeist: „Frauen, die
Schnitzler lesen, sind hässlich und verklemmt“.
Während sein Vater André (Peter Davor) sich mal zynisch, mal
anbiedernd in selbstgefälliger Toleranz übt, macht sich seine Frau
Miriam (Martina Gedeck) Sorgen um das Mädchen und fährt nachts in
das Landhaus von Livias neuer Urlaubsbekanntschaft, um dann in den
folgenden Tagen selbst eine Affäre mit dem hübschen Kerl zu
beginnen. Dass der zögerliche Bill später Miriam gegenüber seine
Liebe zu Livia bekennt – in seinen Augen hat sie „Niveau“, anders
als seine Freunde in den USA, die nur Geld und Dummheit verkörpern
würden – führt zu Eifersüchteleien und zur Katastrophe. Die
kindliche Livia als Kontrahentin gegenüber Miriam auch nur
anzudenken, wirkt befremdlich, es hinterlässt einen schalen
Beigeschmack. Jedenfalls halten wieder einmal die Mädchen und Frauen
alle Fäden in der Hand, die Männer verkrümeln sich auf die
Zuschauerposten, dienen allenfalls als Kommentatoren – relaxt bis zur
Selbstauslöschung.
Es ist diese Kommentatoren-Gesellschaft, diese Runde aus anbiedernden
Allesverstehern und routinierten Egoisten, die Regisseur Stefan
Krohmer und sein Autor Daniel Nocke so gemächlich wie unauffällig
ins offene Messer laufen lassen. Bereits in „Sie haben Knut“
sezierten sie die Piefigkeit arroganter Ideologen und Apokalyptiker
in den 80er Jahren. In „Sommer ‘04“ werfen sie die heutige
Psychologisierung des Alltags, bei der therapeutisches Geschwätz mehr
Gewicht hat als jede gegenwärtige Gefühlregung, auf den Tisch.
„Nils ist cooler als du denkst. Wir sind jetzt gute Freunde, die
gelegentlich auch mal Sex haben“, äußert die 12-jährige Livia
ganz beiläufig. „Hilft es deinem Selbstwertgefühlt, dass ich dich
mag, dass ich dich sogar für intelligent halte?“, sagt Miriam zu
Bill. „Wie Nils mit seiner Angst und Trauer umgegangen ist, das hat
mich sehr beeindruckt und auch bewegt. Ich weiß nicht, ob Sie das so
mitbekommen haben“, schwadroniert ein Arzt am Ende. Der Titel
„Sommer“ (von 1996) und die Wohlfühlstimmung wurden von Eric
Rohmer geborgt, aber nur äußerlich. Keine Figur bleibt in
sympathischer Erinnerung, jede nervt auf ihre eigene alltagstaugliche
Art in diesem hellsichtigen Drama.
Dorothee Tackmann