Stuttgart 21

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Gestern noch Erstsemester auf der Filmhochschule und heute schon auf der Berlinale – soll keiner sagen, dass „Stuttgart 21“ nicht auch Vorteile hat! Von den Nachteilen des höchst umstrittenen Großprojekts erzählen Lisa Sperling, 24 und Florian Kläger, 23 in ihrer Dokumentation über den Bürgerprotest, zu der sie der in Stuttgart geborene Produzent Peter Rommel („Halbe Treppe“) angeregt hat. Ihr Ziel ist keine ausgewogene Reportage, kein abermaliges Abhaken der hinlänglich bekannten Fakten und auch kein Wiederkäuen der oft gesehenen Bilder vom brutalen Polizeieinsatz vom 30. September 2010. Die beiden Jungfilmer wollen vor allem dem Gefühl dieser breiten Bewegung nachgehen. Das gelingt, nicht zuletzt dank des bisweilen naiven Charmes, durchaus bestens – anschließendes Diskussionspotential inklusive.

Webseite: www.stuttgart21-derfilm.de

Deutschland 2011
Regie: Florian Kläger. Lisa Sperling
Darsteller: Gangolf Stocker, Stefan Mappus, Joe Bauer, Volker Lösch, Wolfgang Schuster, Herbert Rech, Marietta Slomka und TeilnehmerInnen des Bürgerprotestes gegen Stuttgart 21.
Laufzeit: 75 Minuten
Kinostart: 28.2.2011
Format: digital, DVD
Verleih: Rommel Filmverleih; Vertrieb: Die Filmagentinnen

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

„Und irgendwann werden wir vielleicht 4.000 Demonstranten“, hofft Gangolf Stocker, Stuttgarter Stadtrat und einer der Initiatoren des Protests gegen das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ bei einer der ersten Montagskundgebungen. Auch Bahn-Chef Grube läßt sich damals noch kurz blicken. Unter lautem Pfeiffkonzert verspricht er großes Verständnis: „Ich laufe vor Kritik nicht weg“. Einige Monate später greifen die Bagger an, im Zeitraffer wird der Abbruch des Nordflügels des denkmalgeschützten Bahnhofs gezeigt. Auf dem Cannstatter Wasen macht sich Stuttgarts OB Wolfgang Schuster, CDU, vor einem gutgelaunten Ministerpräsidenten Mappus über den Protest der Projektgegner lustig und deklariert das Volksfest feixend zur eigentlichen Volksbewegung. Schale Späße, denn die Simmung in der Stadt hat sich längst dramatisch verändert.

Vom „Button-Effekt“ erzählt ein Befürworter, und erklärt, wie die gerne getragenen Anstecker der „S 21“-Gegner und der Befürworter für ungeahnte Kommunikation im Alltag der sonst eher ungeselligen Schwaben-Metropole sorgen: Anzugträger und Punks, Schüler und Senioren debattieren spontan in der Straßenbahn über das Projekt, sobald sich jemand mit einem „Oben bleiben“-Button geoutet hat. Vom Spaß-Faktor schwärmt auch Theater-Intendant Volker Lösch mit Blick auf den kreativen Widerstand im Stuttgarter Schloßpark, derweil Deutschlands wohl treffsicherster Kolumnist Joe Bauer (seine Auftritte allein lohnen bereits den Film) mit gewohnter Lässigkeit und Schärfe auf die Arroganz der Macht, die Phrasen bei der Geißler-Schlichtung oder auf die Rolle der freiwerdenden Grundstücke verweist: „Man investiert nur Milliarden, wenn man auch etwas verdient“. Unterstützt werden solche Aussagen von einem ehemaligen Bankvorstand, der mit sympathischer Bescheidenheit und in bestem Honoratioren-Schwäbisch die Dinge präzise auf den ökonomischen Soll und Haben-Punkt bringt. Um Haben und Sein geht es derweil Behinderten, die sich in einem Tunnelbahnhof nicht mehr zurechtfinden werden. Oder jener Künstlerin, die die verbuddelten Bahnhofs-Milliarden lieber in Bildung und soziale Projekte investiert sehen würde. Dass es sich bei ihr just um die Mutter der Regisseurin handelt, mag etwas hausbacken wirken. Doch gerade dieser naive Charme der liebenswerten Art unterscheidet diese Doku vom selbstgefälligen Sarkasmus der üblichen „Spiegel TV Reportage“.

In diesem Kaleidoskop von Zeitzeugen werden Bilder der Demonstrationen gestreut. Vom bunten Protest, aber auch vom berüchtigten Polizeieinsatz des 30.September 2010 im Schloßpark, der für bundesweites Entsetzen sorgte. Auf die brutalen Bilder, die man von diversen „You Tube“-Videos kennt, wird verzichtet. Doch auch in den langen, unaufgeregten Einstellungen ist die Dramatik dieses Tages greifbar zu spüren.
Ein „Denkmal“ Mangel ist sicher, dass ausgerechnet das leibhaftige Denkmal dieses Protestes, der Schauspieler Walter Sittler und populäre Erfinder des „Schwabenstreichs“ (kollektives Lärmen immer montags, pünktlich um 19 Uhr) im Film völlig fehlt. Auch politischen Köpfen wie Hannes Rockenbauch oder Boris Palmer hätte man zumindest kleine Auftritte bei dieser Nahaufnahme von Bürgerprotest gerne gegönnt – aber für Diskussionen ist schließlich auch nach dem Abspann noch Gelegenheit. Entschädigt wird zudem jeder Mangel durch ZDF-Frau Marietta Slomka. Als Sahnehäubchen und Sternstunde des TV-Journalismus gibt es ihren Interview-Klassiker mit einem reichlich überforderten Innenminister im „heute journal“.

Ein starkes Zeitdokument, gerade weil es einen anderen Weg als die übliche Dokumentation versucht. Kein schlechter Einstand für Erstsemester an der Filmhochschule.

Dieter Oßwald

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