Vorleser, Der

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"Wer braucht einen weiteren Holocaust-Film, der uns zum Mitleid mit einer KZ-Wächterin auffordert?“, wetterte die New York Times. „In ,Der Vorleser’ ist der Holocaust Teil eines Liebesdramas“, legte Der Spiegel nach und warnte vor einem „Paradigmenwechsel im Umgang mit den dunkelsten Jahren der deutschen Geschichte“. Stephen Daldrys Verfilmung des Buches von Bernhard Schlink wird von heftigen Skandal-Rufen begleitet. Doch die Aufregung ist kaum gerechtfertigt. Weder verharmlosen Daldry und sein Drehbuchautor David Hare die Verbrechen der Nazi-Zeit noch werben sie um Verständnis für die Täter. Sie werfen allerdings einen Blick auf das Verhältnis von Täter- und Nachkriegs-Generation, der aus dem Gut/Böse-Schema ausbricht und dementsprechend gewöhnungsbedürftig ist. Höchst anregend ist das allemal.

Webseite: www.dervorleser-film.de

USA/Deutschland 2008
Regie: Stephen Daldry
Buch: David Hare
Kamera: Chris Menges, Roger Deakins
Darsteller: Kate Winslet, Ralph Fiennes, David Kross, Lena Olin, Bruno Ganz, Karoline Herfurth
Länge: 123 Minuten
Verleih: Senator
Kinostart: 26.2. 2009

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Ein Liebesverhältnis zwischen einer 36-jährigen Frau und einem 15-jährigen Jüngling auf der Leinwand zu zeigen ist auch heutzutage noch ein gewisses Wagnis. Wenn es sich bei der Frau dann noch um eine ehemalige KZ-Aufseherin handelt, scheint die Grenze zum ästhetisch wie moralisch Obszönen jedoch weit überschritten zu sein. Noch dazu, wenn die Liebesszenen, die das erste Drittel des Films dominieren, so sinnlich und detailliert ausfallen. Die Empörung scheint hier zu Recht hochzukochen. Der wohlgeformte Körper Kate Winslets, die die frühere SS-Frau Hanna Schmitz mit kühler Strenge spielt, werde zu Holocaust-Unterhaltungszwecken eingesetzt, lautet der Hauptvorwurf. Die Bilder scheinen keinen anderen Schluss zuzulassen, und die Produktionsfirma Weinstein wird es unter Vermarktungsgesichtspunkten sicherlich nicht ungern gesehen haben, dass saftige Liebesszenen mit viel nackter Haut wie ein Paukenschlag am Beginn des Films stehen. Das kann man denen zugestehen, die „Der Vorleser“ verurteilen.

Doch die Empörung über das Unerhörte – Nazi-Schergin verführt braven Jungen -, greift zu kurz. Die angeblich skandalöse Konstellation ist wohlbegründet. Bernhard Schlink ging in seinem Roman der Frage nach, wie die Nachkriegsgeneration mit den Eltern und der düsteren Vergangenheit umgehen konnte. Deshalb ist das Paar eine Generation voneinander entfernt. Auch die Intimität hat ihre Berechtigung jenseits des oberflächlichen Schauwerts. Die Konflikte um die Nazi-Vergangenheit wurden schließlich im intimen Rahmen der Familie ausgetragen – noch nicht in den fünfziger Jahren, in denen die Liebesgeschichte angesiedelt ist, doch ganz massiv in den studentenbewegten sechziger Jahren, als das Schweigen gebrochen wurde. Die Nacktheit ist zudem ein geeignetes filmisches Mittel, um die Strategien von Entblößung, Verbergen und Reinigung ins Bild zu setzen, die diese Konflikte durchziehen.

Und eins darf man nicht übersehen: Im Bett wird nicht nur Liebe gemacht, sondern viel vorgelesen. Der aufgeweckte Michael Berg, von David Kross mit linkischem Übermut verkörpert, bringt seiner schönen Geliebten die Freuden der Literatur nahe, anfangs nicht ahnend, dass sie Analphabetin ist. Dieser Umstand bekommt Jahre später eine zentrale Bedeutung, als sie wegen ihrer Taten angeklagt wird und Berg, inzwischen Jura-Student, ihr unerwartet im Gerichtssaal wiederbegegnet, wo der Konflikt um „Wahrheit und Versöhnung“ (Daldry) kulminiert. Der Analphabetismus ist nicht nur Vehikel der Handlung, er charakterisiert auch die Täter-Generation mit ihrer begrenzten Reflexionsgabe und der Unfähigkeit, die Zeichen der Zeit zu lesen.

Daldry zeichnet Hanna Schmitz nicht als Monster in schöner Hülle, sondern als durchschnittliche Frau, die ohne groß nachzudenken und ohne moralische Bedenken ein Rädchen im Nazi-Getriebe wurde wie viele andere Deutsche auch. Damit wird nichts entschuldigt. Auf die Frage von Schuld und Sühne gibt der Film klare Antworten und er bleibt auf Distanz zu seiner weiblichen Hauptfigur, die ihre Gefühle weitgehend für sich behält. Michael Berg, der als Erwachsener von Ralph Fiennes mit selbstquälerischem Gestus gespielt wird, kommt von der schönen schrecklichen Frau zeit seines Lebens nicht los. Auch wenn Daldry im zweiten Teil des Films mit den Mitteln des Gefühlskinos arbeitet, schaut man keiner Liebesgeschichte zu, sondern einer Art Zwangsbeziehung, geformt von den Schatten der Vergangenheit. Wenn Michael Berg Hanna Schmitz dann doch noch die Hand reicht, ist dies keine Geste der Vergebung.

Volker Mazassek