Wer wenn nicht wir

Wahre Lovestory meets packendes Politdrama: Der junge Bernward Vesper lernt Anfang der 60er Jahre Gudrun Ensslin kennen. Die beiden Rebellen schwören sich bedingungslose Liebe. Dann tritt mit Andreas Baader ein neuer Mann ins Leben von Ensslin – der Rest ist deutsche Geschichte. Der preisgekrönte Dokumentarfilmer Andres Veiel („Black Box BRD“) verzichtet bei seinem Spielfilm-Debüt auf die bekannten Bilderschleifen zum Thema RAF und setzt auf eine psychologische Versuchsanordnung: So entsteht ein atmosphärisch dichtes, packendes Polit-Panorama über die Ursprünge bundesdeutscher Rebellion sowie den Aufbruch einer Generation. Ein Pflichtfilm – der zu cineastischen Kür gerät und bestens in das aktuelle Umfeld passt. Großartig!

Webseite: www.senator.de

Deutschland 2011
Regie und Drehbuch: Andres Veiel
Darsteller: August Diehl, Lena Lauzemis, Alexander Fehling, Thomas Thieme, Imogen Kogge, Michael Wittenborn, Susanne Lothar
Laufzeit: 124 Minuten
Verleih: Senator
Kinostart: 10.3.2011

PRESSESTIMMEN:



FILMKRITIK:

Mit „Black Box BRD“, „Die Überlebenden“ oder „Die Spielwütigen“ hat Andres Veiel sich einen Ruf als exzellenter Dokumentarfilmer geschaffen. Mit seinem Spielfilm-Debüt erzählt er, basierend auf dem Sachbuch „Vesper, Ensslin, Baader – Urszenen des deutschen Terrorismus“ von Gerd Koenen, die Liebesgeschichte zwischen dem jungen Verleger Bernward Vesper und Gudrun Ensslin, die sich Anfang der 60er Jahre beim Studium in Tübingen kennenlernen. Er, Sohn eines NS-Schriftstellers und sie, Pfarrerstochter, schwören sich bedingungslose Liebe. Zugleich rebellieren beide gegen die verkrusteten Verhältnisse in Elternhaus und Gesellschaft. Das Paar zieht nach Berlin, bekommt ein Kind. Dann tritt mit Andreas Baader ein neuer Mann ins Leben von Ensslin. Sie geraten in den Sog der politischen Aufbruchs – Baader und Ensslin katapultieren sich in den Untergrund.

Noch so ein Terroristen-Drama um die RAF? Keineswegs. Veiel verzichtet bewusst auf die sattsam bekannten Bilderschleifen zum Thema und setzt auf eine psychologische Versuchsanordnung: Eine rigorose Liebesgeschichte vor politisch aufgeladener Kulisse. „Warum muss ein Dreieck immer zur Geraden schrumpfen?“ fragt die Ensslin, als ihr Freund es mit der Treue nicht so eng sieht. Der wiederum wird listig vom linken Rhetorik-Professor Walter Jens bekocht: „Der Sohn eines glühenden Hitler-Verehrers ist bestimmt Vegetarier“, stichelt der legendäre Gelehrte provozierend beim Abendbrot – Vesper verlegt die schwülstige Nazi-Lyrik des Vaters, zugleich druckt er eine radikale Anthologie gegen den Atomtod oder Schriften der „Black Panther“-Bewegung.

Sein 68er-Zeitgeist -Puzzle konstruiert Veiel als cleveres Kaleidoskop. Den politischen Rahmen bilden Wochenschau-Aufnahmen: Atombomben-Versuche, Napalm-Abwürfe, Kuba-Krise, Mauerbau – satirisch unterlegt mit Popsongs von „Stand by me“ bis „Keep on running“.

Im Privaten wird gegen autoritäre Eltern rebelliert oder nach neuen Wege der freien Liebe gesucht. Zwischen Frauenheld Vesper und Macho Baader entwickelt sich Ensslin zunehmend zum emotionalen Wrack, sogar das eigene Kind gibt sie schließlich auf. Veiel zeichnet seine Porträts mit psychologischer Präzision sowie großer Liebe zum Detail, ihn interessieren die feinen Haarrisse des Aufbruchs. So entsteht ein atmosphärisch dichtes, packendes Polit-Panorama über die Ursprünge bundesdeutscher Rebellion sowie den Aufbruch einer Generation gegen die muffigen Verhältnisse im Privaten wie im Politischen. Das Zeit- und Sittengemälde der 60er Jahre funktioniert dabei ebenso wie als rigorose Liebesgeschichte.

Ein bisschen Geschichtsunterricht light gibt’s obendrei, etwa wie die SPD zu ihren Wahlslogans kam oder dass Kanzler Kiesinger einst an den NS-Rassegesetzen beteiligt war. Ein gelungener Spielfilm-Einstand, bei dem Lena Lauzemis und August Diehl als zerbrechliche Radikale überzeugen und Ex-„Goethe“ Alexander Fehling als eindrucksvoll gebrochener Baader-Darsteller seinem Ruf als diesjähriger „Shooting Star“ absolut gerecht wird und höchst bärenverdächtig ist. 

Dieter Oßwald

Andres Veiel ist ein bekannt guter (Dokumentar-)Regisseur, und das bestätigt sich auch wieder bei diesem (Spiel-)Film.

60er Jahre. Entstehungszeit des RAF-Terrorismus in Deutschland. Bernward Vesper und Gudrun Ensslin lernen sich an der Universität kennen. Vesper hat Literarisches im Sinn. Er will einen Verlag gründen. Allein schafft er das nicht. Er lädt Gudrun zur Mitarbeit ein.

Vesper ist quasi vorbelastet. Sein Vater war Heimatdichter und Schriftsteller. Und was für einer! Er verehrte Adolf Hitler, dichtete auch in diesem Sinne und, besonders gravierend, hielt bei der Bücherverbrennung die Hauptrede.

Gudrun Ensslin war die Tochter eines Pastors, die begabteste unter mehreren Geschwistern. Sie durfte deshalb studieren. Sie war sensibel und rebellisch zugleich, gescheit denkend und ihrem Vater vorwerfend, dass er keinen aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus betrieben habe.

Bernward Vesper ging eine kurze Zeit sogar in den Fußstapfen seines Vaters, wollte dessen Gesammelte Werke veröffentlichen. Der Plan scheiterte offenbar nur an den Finanzen. Langsam wuchs die Liebe zwischen ihm und Gudrun Ensslin.

Das geistige Klima der Bundesrepublik änderte sich in den 60er Jahren. Proteste gegen die Altnazis, gegen muffige Universitäten, gegen die Springer-Presse, gegen sexuelle Enge und Verbote, gegen den Schah von Persien, gegen die Atombombe, vor allem gegen den Vietnam-Krieg und die Amerikaner. Die Stimmung wurde explosiv. Es gab mit Benno Ohnesorg den ersten Toten unter den Protestlern.

In Gudrun Ensslin wuchs die Radikalität. Zuerst reden und schreiben, dann zur Gewalt übergehen, Kaufhäuser in die Luft sprengen, morden. Die letzten Grenzen wurden mit dem fanatischen Andreas Bader überschritten.

Bernward und Gudrun bekommen einen Sohn. Aber das Liebesverhältnis zwischen ihnen könnte schwieriger nicht sein: Sexbeziehungen mit anderen Partnern, gegensätzliche Meinungen, Geldnot, Streit, politisches Auseinanderdriften, Trennung, Versöhnung.

Nach den Frankfurter Kaufhausattentaten und dem folgenden verlorenen Gerichtsverfahren fliehen Ensslin und Bader. Sie werden jedoch gestellt und verbringen fünf Jahre Haft in Stuttgart-Stammheim. Beider Leben endet im Gefängnis mit Selbstmord.

An den persönlichen Schicksalen von Vesper, Ensslin und Bader, am Zustand der Gesellschaft von damals und an der Politik der Zeit wird von Andres Veiel ein neue Daten aufdeckendes, informatives, menschlich erregendes, interessant-spannendes, quasi-dokumentarisches Bild geliefert, in dem August Diehl (Bernward Vesper), Lena Lauzemis (Gudrun Ensslin) und Alexander Fehling (Andreas Bader) aber auch etwa Thomas Thieme als Vater Vesper oder Susanne Lothar als Gudruns Mutter bravourös spielen.

Thomas Engel

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