Wie im echten Leben

Zum Vergrößern klicken

Plackerei und Geldnot, geringes gesellschaftliches Ansehen und prekäre Lebensverhältnisse – In „Wie im echten Leben“ schlüpft eine erfolgreiche Autorin in die Rolle einer Putzfrau, um den Alltag und die Erfahrungen schwer vermittelbarer Arbeiter nachvollziehen zu können. Trotz Schwächen bei der Figurenzeichnung: Das bewusst unaufdringlich gefilmte, mit angenehm zurückhaltendem Humor inszenierte Werk besticht durch seine präzisen Darsteller-Leistungen. Ein Film über Gräben in der Gesellschaft und die Situation ausgebeuteter Menschen im Niedriglohnsektor.

Webseite: www.neuevisionen.de/de/filme/wie-im-echten-leben-118

Frankreich 2021
Regie: Emmanuel Carrère
Drehbuch: Emmanuel Carrère
Darsteller: Juliette Binoche, Hélène Lambert, Léa Carne, Emely Madeleine

Länge: 106 Minuten
Kinostart: 30.06.2022
Verleih: Neue Visionen

FILMKRITIK:

Marianne (Juliette Binoche) ist eine angesehene, erfolgreiche Schriftstellerin, die gerade an einem neuen Buch arbeitet. Darin soll es um die wenig beachtete, oft ausgebeutete Arbeiterschicht gehen. Schwer schuftende Menschen, die sich tagtäglich abmühen – und doch ihre Miete nur gerade so zahlen können. Um Einblicke in die realen Lebens- und Arbeitsbedingungen zu erhalten, reist Marianne in die nordfranzösische Hafenstadt Caen. Dort gibt sie sich im Jobcenter als arbeitslose, geschiedene Frau aus, die dringend eine neue Beschäftigung sucht. Das Arbeitsamt beschafft ihr schließlich eine Anstellung als Reinigungskraft. Schon bald lernt Marianne eine Reihe von Frauen kennen, die seit vielen Jahren diese harte Arbeit machen. Sie freunden sich an. Doch Mariannes wahre Identität belastet die Beziehungen.

Autor und Regisseur Emmanuel Carrère rückt in seinem Feelgood-Movie, das gleichzeitig Elemente des Sozial-Dramas und der Milieustudie besitzt, den beschwerlichen Alltag vor allem der in prekären Jobs arbeitenden Menschen ins Zentrum. Tätigkeiten, die von extremer Schinderei, ungerechter Bezahlung und unmenschlichen Anforderungen geprägt sind. Stellvertretend dafür steht die Arbeit als Reinigungskraft, die die Hauptfigur Marianne schnell an ihre Belastungsgrenze führt.
Aus der Diskrepanz zwischen dem beschwerlichen Leben als einfache Arbeiterin und dem wahren, eigentlichen Dasein der Protagonistin ergibt sich ein beständiger, interessanter Konflikt. Denn Marianne kennt sonst nur das sorgenfreie Leben als gutverdienende Autorin, die Teil der angesehenen Kulturszene ist. Es ist die Außensicht einer komfortabel lebenden Frau, die Dinge wie soziale Not und gesellschaftliche Ausgrenzung nicht kennt.
Aus Mariannes Versuchen und ihrem Bemühen, die wahre Identität zu verbergen, ergibt sich dann auch das zentrale Spannungsmoment des Films. Dabei verliert Carrère allerdings nie den Knochenjob von Marianne und ihren Kolleginnen aus den Augen. Etwa wenn er zeigt, unter welchem Zeitdruck die Putzkolonne die Kabinen einer Fähre säubern muss. Zwölf Arbeiterinnen, die für 230 Kabinen gerade einmal anderthalb Stunden Zeit haben.

„Wie im echten Leben“ zeigt trotz aller humorvollen, augenzwinkernden Momente ganz konsequent ausbeuterische Chefs, die ihren Angestellten blöde Sprüche drücken und keinen Respekt vor „einfacher Arbeit“ zu haben scheinen. Oder die Bürokratie und Vorgänge beim Jobcenter, zu dem viele Menschen kommen, die sich von einer schlecht vergüteten, befristeten Stelle zur nächsten hangeln.
Dadurch, dass die komplette Handlung ebenso wie die Dramaturgie und die emotionalen Momente auf die Figur der Marianne zugeschnitten sind, geraten die durchaus spannenden Nebenfiguren allerdings etwas ins Hintertreffen. Abgesehen von der alleinerziehenden Mutter Christèle (ausdrucksstark und glaubhaft: Hélène Lambert), erfährt man nicht allzu viel über die anderen Reinigungskräfte. Oder auch die männlichen Nebencharaktere. Darunter Mariannes Ex-Mann und vor allem ihr sympathischer, nie um einen flotten Spruch verlegenen Verehrer (Didier Pupin), den Marianne auf dem Jobcenter kennengelernt hat. Zu viel bleibt bei der Figurenzeichnung spekulativ und vage.

Hin und wieder erscheinen auch einige der dramatischen Szenen zu konstruiert und gewollt, dafür überzeugt „Wie im echten Leben“ aber mit durchweg starken Darsteller-Darbietungen. Allen voran Juliette Binoche zeigt wieder einmal eine elektrisierende, herausragende Leistung. Konzentriert und hingebungsvoll spielt sie eine Frau, die ständig mit ihren Emotionen ringt und für die sich das Hin und Her zwischen Schein und Sein als Balanceakt erweist.

 

Björn Schneider