Christopher Robin

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Disney schickt nach Produktionen wie „Cinderella“ und „Die Schöne und das Biest“ einen weiteren Realfilm auf die Leinwand, der sich um bereits in Zeichentrickform bekannte Figuren dreht. Liebevoll erzählt „Christopher Robin“ die „Winnie Puuh“-Geschichten weiter und wird damit zu einem einzigartigen Kinoerlebnis für Groß und Klein.

Webseite: www.deinkinoticket.de/christopher-robin

USA 2018
Regie: Marc Forster
Darsteller: Ewan McGregor, Hayley Atwell, Bronte Carmichael, Mark Gatiss, Oliver Ford Davies
Länge: 104 Minuten
Verleih: Walt Disney Pictures
Kinostart: 16. August 2018

FILMKRITIK:

Der in der englischen Provinz lebende Junge Christopher Robin muss Abschied von seinen Freunden aus dem Hundert-Morgen-Wald nehmen: Die Zeit des sorgenlosen Spielens mit seinen Stofftieren Winnie Puuh, Tigger, Ferkel, I-Ah, Känga und Ruh sowie den Waldtieren Eule und Rabbit ist vorbei, der erste Tag auf dem Internat wartet. Obwohl Christopher Robin dem besorgten Winnie Puuh verspricht, ihn niemals zu vergessen, holt den Jungen schon bald die Realität ein. Wie im Fluge vergehen die Jahre; mehrere Ereignisse, manche davon traurig, einige wenige von ihnen schön, zwingen Christopher Robin dazu, eilig sowie durch und durch erwachsen zu werden. Ehe er es sich versieht, ist Christopher Robin ein verheirateter Mann (Ewan McGregor), der gemeinsam mit seiner Frau, der Architektin Evelyn (Hayley Atwell), eine Tochter namens Madeline (Bronte Carmichael) hat, die sich bereits im Schulalter befindet. Gegen Evelyns Einschätzung will Christopher Robin das eifrig lernende Kind aufs Internat schicken – und dann fällt auch noch aufgrund dringender beruflicher Verpflichtungen ein gemeinsames Wochenende auf dem Land flach. Aber kaum ist Christopher Robin allein zu Hause, kämpfen sich seine Erinnerungen an eine ruhigere, verspieltere Zeit hoch …
 
Wenn Kindheitsfavoriten „in unsere Welt“ geraten oder anderweitig aus ihrem ursprünglichen Setting gerissen werden, ist durchaus Vorsicht geboten. Denn dieser nicht selten genutzte Filmplot führte schon öfter zu Produktionen, bei denen vieles von dem auf der Strecke liegen bleibt, was diese beliebten Figuren überhaupt erst zu Ikonen gemacht hat. Wie zum Beispiel die beiden „Die Schlümpfe“-Komödien, in denen die blauen Winzlinge das heutige New York unsicher machen und plötzlich derb-flippigen Humor erlernen und sich Popkulturreferenzen hingeben. Disneys „Winnie Puuh“-Realfilm „Christopher Robin“ lässt sich nicht in dieselbe Schublade stecken. Die freundlichen Gesellen aus dem Hundert-Morgen-Wald verlassen zwar im Laufe der Handlung ihre altbekannte Heimat und werden dabei auch aus dem zeitlosen Kontext befördert, mit dem sie üblicherweise assoziiert werden, um durch einen konkreten Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte zu stolpern. Jedoch verzichten die Autoren Tom McCarthy („Spotlight“) und Alex Ross Perry („Nostalgia“) sowie Autorin Allison Schroeder („Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen“) tunlichst darauf, diese Geschichte auf Kulturschocks hinzubürsten.
 
In „Christopher Robin“ kommt es zu einem behutsamen Settingwechsel, der sich sogar grob an der Wirklichkeit orientiert: Die ersten „Winnie Puuh“-Erzählungen wurden nach dem Ersten Weltkrieg von A. A. Milne in Anlehnung an die Stofftiere und Spielgeschichten seines Sohnes Christopher Robin Milne verfasst. Als Christopher Robin Milne im Alter von zehn Jahren aufs Internat ging, waren seine Kindheitsfreunde (beziehungsweise ihre literarischen Pendants) bereits weltberühmt, als junger Erwachsener zog es ihn in den Zweiten Weltkrieg. „Christopher Robin“ lehnt sich an diesen realen, zeitlichen Ablauf an und erzählt von einem erwachsenen Christopher Robin im sich allmählich der Normalität zuwendenden England der Nachkriegszeit. Somit ist diese schleichende „Modernisierung“ der Hundert-Morgen-Wald-Figuren für uns als Zuschauerinnen und Zuschauer noch immer ein Blick in eine immer ferner werdende Vergangenheit.
 
„Christopher Robin“ ist weder eine Neuerzählung, noch zu irgendeinem Grad eine metafiktionale Reaktion auf Disney-Kritiker oder spitzfindige Filmkommentare. „World War Z“-Regisseur Marc Forster hat stattdessen eine konsequente, herbsüße Weitererzählung von „Die vielen Abenteuer von Winnie Puuh“ und dem 2011 ungerechtfertigt untergegangenen „Winnie Puuh“ herbeigezaubert, die wiederkehrende Figuren mit höchstem Respekt behandelt und den tonalen Fokus liebevoll-behutsam verschiebt, um so dem Stoff aller Feinfühligkeit zum Trotz Neues abgewinnen zu können.
 
Der Schwerpunkt der Erzählung hat sich, analog zum Wechsel der Titelfigur, verschoben. Hier geht es nicht weiter um Stoff- und Waldtiere, die mit ihrem menschlichen Freund spielen. In „Christopher Robin“ geht es darum, dass die Titelfigur keine Zeit mehr für die freudigen Dinge des Lebens hat. Als Kriegsveteran, Familienvater und höherer Angestellter in einer finanziell schwächelnden Firma, der seiner Tochter alles ermöglichen will und daher übertrieben stark um ihren Bildungsstand besorgt ist, ist unser von Ewan McGregor („T2: Trainspotting“) gespielte Protagonist jemand, der einfach dringend eine Pause bräuchte. Jedoch hat er sich so sehr in Verantwortungen verstrickt, dass er sie sich partout nicht leisten will.
 
Obwohl Zyniker sich den Film wahrscheinlich mit einiger Mühe so zurechtbiegen könnten, ist „Christopher Robin“ keine seelenlose Disney-Marketingmaschine, die ihrem Publikum entgegen schreit, wir sollten doch alle für immer Kinder bleiben und uns nicht weiter um Erwachsenensorgen kümmern, so dass wir mehr Produkte des Mäusekonzernes konsumieren. Darum geht es in Marc Forsters paradoxerweise ebenso melancholischem wie lebensfrohem Film wahrlich nicht – Disney-Referenzen tätigt er nur behutsam und respektvoll. Und die Grundbotschaft des Films orientiert sich zwar daran, dass es hilft, sein inneres Kind lebendig zu halten, ist allerdings längst nicht so weltfern wie manch andere Dramödien übers Jungbleiben.
 
Christopher Robin muss in dieser Geschichte nicht um jeden Preis wieder zu genau dem Kind werden, das er einst war – vielmehr handelt der Film davon, dass auch Erwachsene, die glauben, sie hätten sich in ein tiefes, tiefes Loch der unmöglich einzuhaltenden Verantwortungen gegraben, durchschnaufen müssen. Nur, wer einen Schritt zurück aus seinem Sorgenwust macht, um auch wieder den Blick für die freudigen Dinge des Lebens zu gewinnen, kann es letztlich aus seiner Zwickmühle schaffen. Diese schlichte, und dennoch so gern vergessene, Erkenntnis übermittelt Forster auf bezaubernde und unaufgeregte Weise.
 
Antje Wessels