Clair Obscur

Zum Vergrößern klicken

Wie ein Spiegel stellt das Drama „Clair Obscur“ zwei Frauen-Schicksale in der Türkei, einander gegenüber. Auf der einen Seite steht die liberale, gut situierte Psychiaterin Sehnaz, auf der anderen die konservativ erzogene Elmas, die von ihrem Mann wie eine Sklavin behandelt wird. Die feinfühlige Charakterstudie legt schonungslos eine rückständige Gesellschaft offen und zeigt, dass das Leben der beiden nur vordergründig grundverschieden ist. Ein bewegender Film, der von seinen beachtlichen, mitreißenden Darstellern lebt und klar macht, dass sich die Unterdrückung weiblicher Selbstbestimmung durch alle Schichten zieht.

Webseite: www.realfictionfilme.de

Türkei, Deutschland, Polen, Frankreich 2017
Regie & Drehbuch: Yeşim Ustaoğlu
Darsteller: Funda Eryiğit, Ecem Uzun, Mehmet Kurtuluş, Okan Yalabı
Länge: 105 Minuten
Verleih: Real Fiction
Kinostart: 07. Dezember 2017

FILMKRITIK:

Auf den ersten Blick könnten Sehnaz (Funda Eryigit) und Elmas (Ecem Uzun) nicht unterschiedlicher sein. Die eine, Sehnaz, führt an der  Seite ihres Lebensgefährten Cem (Mehmet Kurtuluş) ein privilegiertes Leben als Psychiaterin. Zusammen bewohnen sie ein schickes, teures Apartment. Ganz anders das Leben von Elmas. Als junges Mädchen ist sie mit einem älteren Ehemann verheiratet worden, dem konservative Werte über alles gehen. Bei ihnen lebt Elmas kranke, herrische Schwiegermutter, um die sich die junge Frau kümmern muss. Eines Tages führt ein tragisches Ereignis Sehnaz und Elmas zusammen.
 
„Clair Obscur“ ist nicht der erste Film von Regisseurin Yeşim Ustaoğlu, der sich mit politischen, öffentlichkeitswirksamen Inhalten befasst. Eine intensive öffentliche Debatte löste bereits ihr Durchbruchs-Werk von 1999, „Journey to the sun“, aus. Mit diesem Film wurde sie weltweit bekannt. In ihrer türkischen Heimat ist sie bereits seit 1994 ein Star, als ihr Film „The Trace“ beim Istanbul Film Festival den Hauptpreis erhielt. Ebenfalls beim Filmfest Istanbul, wurde „Clair Obscur“ in diesem Jahr in den Kategorien „Beste Regie“ und „Beste Hauptdarstellerin“ (Ecem Uzun), ausgezeichnet.
 
Bis die beiden Frauen nach einem tödlichen Unfall im letzten Drittel des Films erstmals aufeinander treffen (Sehnaz behandelt daraufhin die verstörte Elmas), ist „Clair Obscur“ spiegelbildlich aufgebaut. Immer abwechselnd werden intime Einblicke in die kontrastierenden  Lebensrealitäten der beiden Frauen, gezeigt. So wird der Zuschauer z.B. Zeuge eines leidenschaftlichen Liebesakts zwischen der Psychiaterin und ihrem Freund. Nur, um kurz danach (erzwungenen) Intimitäten zwischen Elmas und ihrem Mann, beizuwohnen. Auf diese Weise parallelisiert Regisseurin Ustaoğlu die beiden so differierenden Lebenswelten auf sehr intelligente, geschickte Art.
 
Überhaupt bedient sich „Clair Obscur“ mitunter sehr expliziter Sexszenen. Hier beweisen gerade Funda Eryigit und Mehmet Mehmet Kurtuluş Mut zur Freizügigkeit und zu glaubwürdig dargestellter Lust. Es sind aber auch jene Momente, an denen sich später im Film erste Gemeinsamkeiten im Leben von Sehanz und Elmas ablesen lassen. Und das, obwohl sie verschiedenen sozialen Schichten angehören und über einen unterschiedlichen Bildungsgrad verfügen. Aber: beide männliche Hauptfiguren im Film nutzen den Sex, um die patriarchale Macht und Dominanz gegenüber der Frau zu demonstrieren. Da liegt dann oft nur ein schmaler Grat zwischen inniger Einfühlsamkeit und impulsiven Gewaltausbrüchen.
 
Die darstellerischen Leistungen sind durchweg herausragend. Besondere Erwähnung gebührt in erster Linie Funda Eryigit und Ecem Uzun. Eryigit arbeitet viel mit mimischer Ausdrucksweise. Oft spiegeln sich im gedankenverlorenen, traurigen Blick, ihre Ängste und Sorgen. Denn stets hat sie das Gefühl, ihrem Mann nicht zu genügen. Obwohl sie ihre ganze Energie und Weiblichkeit aufbringt, zieht Cem sich immer häufiger zurück und geht seiner Porno-Leidenschaft nach. „Wann fängst du endlich an, mich zu lieben?“, fragt sie ihn in einer der stärksten, emotionalsten Szenen des Films.
 
Dem in nichts nach steht Ecem Uzun mit einer bewegenden Performance als zurückhaltende, verängstigte Elmas. Sie hat ihre nachhaltigste Szene ebenfalls im letzten Drittel des Films. Ein Moment, der unter die Haut geht: zutiefst verzweifelt, befindet sie sich in einer Therapiesitzung bei Sehnaz. Stück um Stück erfährt der Zuschauer im Rahmen eines psychologischen Rollenspiels von ihrem Schicksal. Und wieso sie überhaupt mit einem so viel älteren, autoritären Mann verheiratet wurde.
 
Björn Schneider