Mid90s

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Für sein Regiedebüt „Mid90s“ schrieb der Schauspieler Jonah Hill („Moneyball“) das Skript selbst. Vermutlich schöpfte er für das Porträt der amerikanischen Skateboard-Szene aus eigenen Erinnerungen, denn immerhin war Hill Mitte der 1990er-Jahre, zur Handlungszeit des Films, selbst im Alter der jugendlichen Hauptfigur. Die Dynamik innerhalb einer treffend mit Laien besetzten Skater-Clique funktioniert dabei auch ohne ein besonderes Interesse für Rollbretter ganz hervorragend. Weltpremiere feierte „Mid90s“ beim Filmfestival von Toronto, bevor er im Panorama der 69. Berlinale zu sehen war.

Webseite: www.mfa-film.de

USA 2018
Regie & Drehbuch: Jonah Hill
Darsteller/innen: Sunny Suljic, Lucas Hedges, Katherine Waterston, Na-kel Smith, Olan Prenatt, Gio Galicia, Alexa Demie
Laufzeit: 85 Min.
Verleih: MFA+ FilmDistribution
Kinostart: 7. März 2019

FILMKRITIK:

1995 lief „Kids“ im Kino, Kurt Cobain war erst kurz tot und Monica Lewinsky Praktikantin im Oval Office. Mitten in dieser Zeit lebt der 13-jährige Stevie (Sunny Suljic) mit seiner Mutter Dabney (Katherine Waterston) und dem älteren Bruder Ian (Lucas Hedges) in Los Angeles. Im Regal stehen Videokassetten, auf der Kinderbettwäsche prangen die „Turtles“, auf dem Shirt das Beat 'em up „Street Fighter II“. Wenn der schmächtige Stevie und der zänkische Ian mal nicht streiten, zocken sie PlayStation. Auf der Konsole würde Stevie locker „Tony Hawk's Skateboarding“ spielen, wäre das Game nicht erst 1999 erschienen. Der Junge steht auf Skateboards und alles, was dazugehört.
 
In einem Skateshop trifft Stevie den ungefähr gleichaltrigen Ruben (Gio Galicia). Der hängt hier schon länger ab und stellt dem Greenhorn seine etwas älteren Kumpels vor: Den afroamerikanischen Ray (Na-kel Smith), der als Profi-Skater rauskommen will, den blondgelockten Womanizer „Fuckshit“ (Olan Prenatt) und den gutmütigen Sitzenbleiber „Fourth Grade“ (Ryder McLaughlin). Bald bekommt Stevie den Spitznamen „Sunburn“ und wird, obwohl sichtlich jünger, ein Teil der Skateboardclique.
 
Mitte der 1990er waren die Pole Independentfilm und Mainstream im amerikanischen Kino noch relativ unterscheidbar. Dann, Tarantino lässt grüßen, strömte der Indie-Spirit auf der Höhe seines Erfolgs in den Massengusto. Im Coming-of-Age-Porträt „Mid90s“ holen Jonah Hill und der Kameramann Christopher Blauvelt die verlorene Zeit mit 16mm-Material und dem alten 4:3-Format zurück. Bildkratzer und Körner trimmen den Look auf analog, die Outfits sitzen, Jump Cuts straffen den Rhythmus. Und als Ergänzung zur Musik von Trent Reznor und Atticus Ross sampelt der Soundtrack zeitgenössische Hits von „Nirvana“, den „Beastie Boys“ oder „Eminem“, von Grunge über Ska bis Hip-Hop. Der Stil transportiert die Aussage.
 
Der 1983 geborene Regisseur und Autor Hill peilt aber keine nostalgische Retrospektive an, sondern ein Gefühl des Dabeiseins. Oder des dabei gewesen seins. Im persönlich gefärbten Blick auf die Jugendkultur der 90er steckt viel Universelles. Ein genauer Blick für Zwischenmenschliches, der auch deshalb so treffend ist, weil er nicht alles sieht. Die Situationen zeigen Ausschnitte des Ganzen. Die Skater, perfekt gecastete Laiendarsteller, beleben die unverfälscht wirkende Milieudarstellung mit Improvisationstalent.
 
Man chillt, labert, feiert, skatet. Die erste Zigarette, der erste Rausch, das erste Petting. Die erste Platzwunde, weil ein krasser Stunt misslingt. Fourth Grade hält mit dem Hi8-Camcorder drauf, Ray avanciert zum Ersatzbruder für Stevie, Fuckshit will nur Party machen. Ruben, dem der Neue den Anschluss überhaupt erst zu verdanken hat, reagiert eingeschnappt. Auch Stevies Mutter missbilligt den Umgang des Sohns. Zu viele Schimpfwörter. Dabei halten die Freunde fest zusammen, zumindest im Moment. Ein Bruch steht bevor, die Zukunft sieht anders aus. 1995 ist über zwei Jahrzehnte her.
 
Christian Horn