Murer – Anatomie eines Prozesses

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Nicht um ein weiteres Verbrechen der Nazis geht es in Christian Froschs Gerichtsfilm „Murer - Anatomie eines Prozesses“, sondern um die Psyche und das Selbstverständnis der österreichischen Nation. Der Prozess gegen den SS-Mann Franz Murer, der 1963 trotz erdrückender Beweise freigesprochen wurde, ist dabei nur Aufhänger für eine scharfe Sezierung des österreichischen Wesens.

Webseite: www.der-filmverleih.de

Österreich 2018
Regie & Buch: Christian Frosch
Darsteller: Karl Fischer, Karl Markovics, Alexander E. Fennon, Ursula Ofner-Scribano, Melita Jurisic
Länge: 137 Minuten
Verleih: Der Filmverleih
Kinostart: 22. November 2018

FILMKRITIK:

Ein ganz normaler Österreicher seiner Zeit war Franz Murer, 1912 geboren, der Vater Landwirt. Erst nach dem Anschluss an Deutschland, wurde das Leben Murers außergewöhnlich: Weniger seine Mitgliedschaft in der NSDAP ist dabei gemeint, als seine Rolle bei der Vernichtung der Juden von Vilnius, wo er für seinen Sadismus bekannt und berüchtigt war. Nach dem Krieg wurde er in der Sowjetunion zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt, kam jedoch schon nach sieben Jahren frei und lebte einige Jahre unbehelligt in Österreich.
 
Erst 1963 wurde auf Initiative von Simon Wiesenthal auch in seiner Heimat ein Verfahren gegen Murer angestrengt, dass am 19. Juni 1963 erstaunlicherweise mit einem Freispruch endete. Trotzt vieler Bemühungen, vor allem von Wiesenthal, blieb dies der letzte Prozess gegen Murer, der Anfang 1994 im Kreise seiner Familie friedlich entschlief.
 
Um den Prozess von 1963 geht es in Christian Froschs „Murer - Anatomie eines Prozesses“ vordergründig, denn auch wenn Frosch in Manier eines Doku-Dramas, basierend auf den Prozess-Unterlagen, die Geschehnisse penibel und filmisch spröde nachstellt, geht es doch um wesentlich mehr als die bloßen Fakten.
 
Allein diese wären zwar schon skandalös genug, erschütternd die Berichte der Zeugen aus dem Ghetto Vilnius, die wenigen Überlebenden von einer jüdischen Bevölkerung, die sich einst auf 80.000 belief, geradezu widerwärtig das Agieren des Staatsanwaltes, der seinen Mandanten mit allen Mitteln freizubekommen sucht, doch worum es Christian Frosch geht, ist nicht Empörung oder das bloße Aufzeigen eines offensichtlichen Justizskandals.
 
Er erzählt vom Umgang der Österreicher mit ihrer Vergangenheit, eben auch ihrer NS-Vergangenheit, die bis heute nicht in dem Maße hinterfragt wird, wie es wohl nötig wäre. Allzu leicht fiel es den Österreichern, sich als bloße Opfer zu betrachten, die von Deutschland erobert und dazu gezwungen wurden, sich an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu beteiligen. Von eigenen Fehlern zu sprechen war auch in den 60ern kaum möglich, auf von Österreichern begangene Verbrechen aufmerksam gemacht zu werden, nicht gerne gesehen, gerade wenn diese Anklagen von Simon Wiesenthal und dem Jüdischen Weltkongress kamen.
 
In dieser Haltung - so beschreibt es Frosch in seinem Film, für den er bei der Diagonale mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde - waren sich fast alle einig: Richter, Verteidiger, Publikum. Jede Gelegenheit wird genutzt, sich über die meist jüdischen Zeugen lustig zu machen, ihre Aussagen wegen kleiner Gedächtnislücken komplett zu diskreditieren, ihnen das Gefühl zu geben, dass das ihnen angetane Leid irrelevant ist.
 
Franz Murer selbst ist bei all dem eher die Nebenfigur, er sitzt auf der Anklagebank und verfolgt den Prozess mit ungerührter Miene, voller Überzeugung, unschuldig zu sein, denn er hat ja nur seine Pflicht getan, sieht sich als Opfer der Umstände und keineswegs als Täter. Wie sehr diese Selbstwahrnehmung von seinen Mitbürgern geteilt wird, ist der Kern eines Films, der auf den ersten Blick wenig mehr als ein Doku-Drama ist, unter seiner filmisch spröden Oberfläche jedoch auf präzise Weise die Psyche eines Landes seziert.
 
Michael Meyns