Pferde stehlen

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Grübeln mit Stellan Skarsgård: In der Romanadaption „Pferde stehlen“ inszeniert Hans Petter Moland („Einer nach dem anderen“) den schwedischen Charaktermimen als trauernden Witwer, den eine Begegnung vor seinem einsam gelegenen Haus mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Die inzwischen fünfte Zusammenarbeit der beiden Filmschaffenden ist keineswegs frei von erzählerischen Unebenheiten, entwickelt stellenweise aber eine enorme Ausdruckskraft – nicht zuletzt dank der nuancierten Performance des Hauptdarstellers und einiger wunderbar atmosphärischer Bilder.

Webseite: www.mfa-film.de

Originaltitel: Ut og stjæle hester
Norwegen/Schweden/Dänemark, 2019
Regisseur: Hans Petter Moland
Drehbuch: Hans Petter Moland nach dem gleichnamigen Roman von Per Petterson
Darsteller: Stellan Skarsgård, Jon Ranes, Bjørn Floberg, Tobias Santelmann, Danica Curcic, Sjur Vatne Brean, Pål Sverre Hagen, Gard B. Eidsvold
Länge: 122 Minuten
FSK: ab 12 Jahren
Verleih/Vertrieb: MFA
Kinostart: 21.11.2019

FILMKRITIK:

Nach dem Unfalltod seiner Frau will Trond (Stellan Skarsgård) nur noch seine Ruhe haben und die Welt von seinem Leben ausschließen. Verschlagen hat es ihn in die norwegische Einöde, wo er abseits eines Dorfes am Waldrand haust – unbeeindruckt vom anstehenden Jahrtausendwechsel. Als der Einsiedler eines Abends zum ersten Mal auf seinen Nachbarn Lars (Bjørn Floberg) trifft, erkennt er in diesem den Bruder eines Freundes aus Jugendtagen. Der ebenso ereignisreiche wie erschütternde Sommer 1948 ist plötzlich wieder sehr präsent und nimmt die Gedanken des betrübten Mannes immer stärker ein. Damals half der 15-jährige Trond (Jon Ranes) seinem Vater (Tobias Santelmann) beim Holzfällen in der Wildnis, wurde Zeuge einer schrecklichen Familientragödie und lernte die schmerzhaften Seiten der Liebe kennen.
 
Die Verfilmung von Per Pettersons Bestseller „Pferde stehlen“ schneidet viele unterschiedliche Themen an, befasst sich etwa mit einem ambivalenten Vater-Sohn-Verhältnis und wirft die Frage auf, welche Macht Erinnerungen haben. Inwiefern bestimmen sie unser Selbstbild? Welche Gefühle lösen sie in uns aus? Und stehen wir diesen hilflos gegenüber? Geleitet von Tronds gelegentlichen Voiceover-Kommentaren changiert das kontemplative Drama ständig zwischen den Zeitebenen und stiftet trotz weiterer Schlenker in die Jahre 1943 und 1956 keine Verwirrung, baut aber sehr wohl einige Geheimnisse auf, die in ihrer ganzen Wucht erst nach und nach gelüftet werden.
 
Die einzelnen Handlungsabschnitte leuchtet Hans Petter Moland, der auch das Drehbuch schrieb, nicht immer überzeugend genug aus. Manche Passagen wirken etwas gehetzt und fügen sich eher holprig in das Gesamtbild ein. Negativ ins Auge sticht in diesem Zusammenhang vor allem der Ausflug in die Nazi-Ära. Was grundsätzlich eine spannende Episode sein könnte, erscheint am Ende leider nur wie schmückendes Beiwerk und hinterlässt keine bleibenden Spuren. Ein wenig mehr Feinschliff hätte auch dem Ende gut zu Gesicht gestanden, das doch recht abrupt über den Zuschauer hereinbricht.
 
Schwächen in der Struktur der Geschichte gleicht der Regisseur allerdings durch eine souveräne formale Gestaltung aus. Permanent schenkt er dem Publikum imposant-atmosphärische Aufnahmen von unwirtlichen Schneelandschaften und nebelverhangenen Wäldern, oftmals gepaart mit einem enorm eindringlichen Toneinsatz. Regelmäßig schwellen Umgebungsgeräusche so sehr an, dass sie eine knisternd-bedrohliche Qualität erreichen. Auf diese Weise wird freilich auch der subjektive Prozess des Erinnerns markiert. Bestimmte Eindrücke und Empfindungen haben sich offenbar nachhaltig in Tronds Gedächtnis eingebrannt. Oder aber er lädt seine Erlebnisse im Nachhinein mit einer ganz besonderen Aura auf.
 
Obschon Jungdarsteller Jon Ranes die Verunsicherung der Hauptfigur im Teenageralter greifbar werden lässt, gibt der gewohnt charismatische Stellan Skarsgård dem Film seine Seele. In seiner nuancierten Mimik und seiner Haltung spiegeln sich die Trauer und die Resignation des gealterten Protagonisten deutlich wider, ohne jedoch aufdringlich daherzukommen. Gerade weil der schwedische Schauspieler so viel allein über seine Körpersprache erzählt, fühlen sich Tronds Voiceover-Erklärungen in einigen Szenen schlichtweg überflüssig an.
 
Christopher Diekhaus