Seestück

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Das Adjektiv „beharrlich“ beschreibt das dokumentarische Schaffen von Volker Koepp recht gut. Seit bald fünf Jahrzehnten bereist der Dokumentarist osteuropäische Gegenden vom früheren Ostpreußen bis zur Ukraine und dokumentiert die dortigen Landschaften mitsamt der Menschen, die darin leben. Über die Jahre hat der „Chronist des Ostens“ einen ganzen Kosmos geschaffen, der durch Folgebesuche und wiederkehrende Protagonisten eine ganz eigene Tiefe gewinnt. Mit „Seestück“ kartographiert Koepp nun den Ostseeraum von Usedom bis ins Baltikum. Dabei wechseln Landschaftsbilder mit Kurzporträts vor Ort lebender Menschen, die ihre Sicht auf das Meer und die Welt kundtun.

Webseite: www.salzgeber.de/seestueck

Deutschland 2018
Regie: Volker Koepp
Drehbuch: Barbara Frankenstein, Volker Koepp
Mitwirkende: Ewald Hellfritz, Merle Jantson, Siegfried Kempe, Biologe Michael Succow, Joakim Collin, Else Flyger Poulsen, Ulrich Bathmann
Laufzeit: 135 Min.
Verleih: Edition Salzgeber
Kinostart: 13. September 2018

FILMKRITIK:

Am Anfang zeigt eine lange Einstellung die Ostsee. Es folgt ein Nachthimmel mit Wolken, die romantisch am Mond vorbeiziehen. Im Hintergrund trötet ein Kreuzfahrtschiff, das sich in der dritten Einstellung in voller Länge durchs Bild schiebt. Und schon hat Volker Koepp, dessen Handschrift bereits den Eröffnungsbildern zu entnehmen ist, den Rahmen seines neuen Dokumentarfilms abgesteckt. Es geht um das Meer, die Natur, die meist destruktive Rolle der Menschen darin.
 
2016 thematisierte Koepp in „Landstück“ die moderne Landwirtschaft in Nordostdeutschland. In „Seestück“ betrachtet er das Land nun vom Wasser aus. Das Thema des Vorgängers klingt nach, wenn etwa ein alter Fischer aus Albeck die schwindenden Fischbestände mit der „vielen Chemie“ im Wasser in Zusammenhang bringt – und dem Plastik, das in den Weltmeeren treibt. Später erklärt ein Ökologe, dass die Auswirkungen von Verunreinigungen aus der Pharmaindustrie auf das Meer bislang weitgehend unerforscht sind: Niemand weiß, wie Antidepressiva auf Fische wirken. Ein Kapitän der Küstenwache kritisiert den zunehmenden Schifffahrtsverkehr mit Gefahrengut wie Flüssiggas und die laxe Handhabung der Sicherheitsvorschriften. Und ein russischer Professor attestiert der Ostsee einen „eigenen Geist“. Die See habe seinen kranken Sohn gerettet, dem Ärzte ein kurzes Leben beschieden. In einer Hütte auf der Kurischen Nehrung habe das Kleinkind Kraft gefunden. Mit Hilfe der Ostsee – und der Kuh einer alten Dame aus dem Dorf nebenan.
 
Die Kritik des menschlichen Umgangs mit der Natur kommt in den Aussagen der befragten Menschen zwar regelmäßig vor, doch „Seestück“ ist kein agitatorischer Film. Wie stets geht es Koepp um die Landschaft als solche und die Menschen, die darin leben. Ruhige Aufnahmen verschiedener Küstenabschnitte, bei denen der Wind und die Wellen die Tonspur dominieren, wechseln mit Gesprächen, in denen Koepp die Befragten aus ihrem Leben an und mit der See erzählen lässt. Manche kennt Koepp von anderen Projekten her, zu anderen findet er einen unverstellten Zugang.
 
Die Koeppsche Vertrautheit zu den Menschen führt zu wahrhaftigen Alltagsmomenten. Der Fisch sei heute kälter als sonst, meint ein Fischer – das sei ihm noch gar nicht aufgefallen, entgegnet ein anderer. Was die meisten Dokumentaristen als nebensächlich abtun würden, wird bei Koepp zu einem genuinen Bestandteil der filmischen Bestandsaufnahme. In einer Szene spricht eine Anwohnerin über die Ruine eines Leuchtturms und deutet aus dem Bild heraus zum Standort desselben. Wo ein Schnitt auf die Ruine naheliegend wäre, bleibt Koepp bei der Frau. Erst als sie fertig ist, folgt das Bild der Ruine. Bei Koepp übertrumpft die dokumentarische Form nie den Inhalt. Das prägt sowohl seine Porträtfilme wie „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ oder „Söhne“, als auch seine Landschaftsfilme wie „Uckermark“ oder „Pommerland“. Sein aufrichtiges Interesse am Kulturraum Ostsee hallt dabei auch in persönlich gefärbten Off-Kommentaren wider.
 
Auch die neuen Hegemonialinteressen Russlands sickern immer wieder in die Gespräche. Im Vordergrund steht aber die Ostsee selbst, die sozusagen durch die Anrainer/innen spricht. Alltägliche Anekdoten, philosophische Gedanken zu Kant, Rousseau oder Caspar David Friedrich und die schnörkellos-schönen Bilder von Koepps Stammkameramann Uwe Mann verbinden sich in „Seestück“ zu einer lohnenden Rundreise. Weit entfernt von technikbegeisterten Dokus wie „Die Ostsee von oben“ bleibt Volker Koepp auf dem Boden der Tatsachen, bei den Menschen, der Brandung, den Grashalmen, die sich im Wind bewegen.
 
Christian Horn