Barfuss auf Nacktschnecken

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Anhand der ungleichen Schwestern Clara - ernst, geradlinig, angepasst - und Lily -lebensfroh, kreativ und exzentrisch bis an die Grenze der Lebensfähigkeit - erzählt Fabienne Berthaud ein Märchen darüber, wie es wäre, wenn wir aufhören würden, uns und andere zu belügen und einfach täten und sagten, wonach uns zumute ist. Der Film ist so bunt und sonnig und phantasievoll, wie die Häkeldecken, mit denen Lily die Bäume des elterlichen Grundstücks dekoriert. Dennoch bleibt ein Rest von Unbehagen: wollen wir wirklich zurück zum selbstvergessenen Egoismus der Kindheit?

Webseite: www.barfuss-auf-nacktschnecken.de

Titel des Originals: Pieds nus sur les limaces
Frankreich 2010
Regie: Fabienne Berthaud
Buch: Fabienne Bertaud , Pascal Arnold
Kamera: Fabienne Berthaud, Nathalie Durand
Darsteller: Diane Kruger, Ludivine Sagnier, Denis Ménochet, Brigitte Catillion, Jacques Spiesser
Länge: 103 Minuten
Verleih: Alamode Film
Filmstart: 5.5.2011

PRESSESTIMMEN:

...Ein leuchtender Film voll schöner Bilder über die alte Erkenntnis, dass Blut dicker ist als Wasser.
Brigitte

FILMKRITIK:

Die blonden Schwestern Lily und Clara könnten unterschiedlicher kaum sein. Clara, die ältere, lebt das grau-weiß-geradlinige Leben einer Anwaltsgattin. Sie ist immer akkurat gekleidet in vernünftigen Röcken und seriösen Blusen. Sie bewahrt Haltung und kann auch noch in unangenehmen Situationen freundlich und verbindlich sein. Ihre Möbel sind eckig, modern und spärlich. Ihre Ehe ist mustergültig. Ihre kleine Schwester Lily ist das genaue Gegenteil: sie liebt ultrakurze Flickenkleider und beiläufigen Sex, sie sagt, was sie denkt mit der Impulsivität und Rücksichtslosigkeit eines kleinen Kindes und sie verbringt ihre Tage damit, selbstvergessen Pantoffeln und Kunst aus Pelz zu basteln und in der Natur um den heimatlichen Hof herumzustrolchen. Der Hof ist ihr Schutzraum – in einem ‚normalen‘ Alltag mit 40-Stunden-Woche, Steuererklärungen, Heizkostenrechnungen und Höflichkeitslügen wäre sie nicht lebensfähig.

Als die Mutter unerwartet stirbt, bricht Lilys Schutzraum zusammen und Clara muss sich um die kleine Schwester kümmern. Zunächst empfindet Clara das vor allem als Belastung. Sie muss ihre Stadtwohnung verlassen und aufs Land ziehen, da Lily alleine verwahrlost und vereinsamt – zumindest nach bürgerlichen Maßstäben. Clara muss den Haushalt schmeißen und sich dann noch von der Schwester sagen lassen, dass sie unglücklich und verklemmt sei. Eine Abschiebung der Schwester ins Heim hängt in der Luft. Doch nach und nach lässt sich Clara immer mehr auf Lilys Welt und Rhythmus ein und entdeckt dabei ihre eigene lang verschüttete Fähigkeit zu Genuss und Spontanität.

Lilys kindlich-verzauberte Welt der eindeutigen Gefühle und magischen Gegenstände spiegelt sich in dem verspielten Szenenbild der Künstlerin Valérie Delis wieder: in den knallbunten Kinderkleidern, die Lily bevorzugt trägt, in den sonderbaren Gegenständen, die Lily aus Pelz, Krallen und Filz baut und in den Installationen aus Puppenteilen, Stofftieren und Häkeldecken, die Lily in ihrer Werkstatt baut und im Wald verstreut. Trotz der meist guten Laune Lilys, der immerfort strahlenden Sonne und der leuchtenden Farben von „Barfuss auf Nacktschnecken“ wohnt Lilys Welt aber auch eine dunkle Seite inne. Erhängte Teddys, ausgestopfte Tiere und verstümmelte Puppen sprechen von Gewalt und Tod. Lilys unverblümte Direktheit selbst laviert zwischen charmanter Naivität, Grausamkeit und Erpressung, etwa wenn sie ihrem Schwiegervater ins Gesicht sagt „Du hast eine böse Frau, du solltest dich scheiden lassen.“ Oder wenn sie ihrer Schwester selbstmitleidig vorwirft „Immerhin hast du jemanden, der dich liebt“ und sie damit zum Bleiben zwingt.

Und so erzählt „Barfuss auf Nacktschnecken“ weniger von einer tatsächlichen Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen als von dem Wunsch danach. Einem Wunsch, der sich seiner Kehrseite wohl bewusst ist. Eine Brücke zwischen Claras und Lilys Welt scheint nur in einer Richtung möglich: um zu ihrer Schwester zu gelangen muss Clara ihre eigenen Bindungen an die bürgerliche Welt aufgeben und zu einem Teil der „verrückten Schwestern“ werden. Sie tut es gern.

Hendrike Bake

Lily und Clara sind Schwestern, grundverschieden zwar, aber Schwestern. Clara ist mit dem Anwalt Pierre verheiratet und arbeitet mit ihm in der Stadt.

Lily hingegen lebt mit der Mutter auf dem Land. Als diese plötzlich stirbt, ist Lily allein mit der Haushälterin Mireille. Das könnte mit den zweien gut gehen, wäre Lily ein Mädchen wie jedes andere.

Doch das ist sie nicht. Sie hat krause Ideen; gibt sich völlig ungezwungen; ist in keine Schablone zu pressen; meint, dass ihr Körper zum Vergnügen da sei, übrigens auch für andere; möchte den Bauernjungen Paulo verführen, was nicht klappt; Macht aus dem Grab der Mutter eine Show; haut ab und zu einfach ab; lädt fremde junge Männer ein, die gerade vorbeikommen und schläft mit einem; beleidigt Pierres Mutter ebenso wie x-beliebige Menschen im Schwimmbad; vergnügt sich mit drei Jungen im Wald; legt Clara nahe, sich von Pierre zu trennen.

Diese beiden geben sich zunächst mit Lily alle Mühe. Doch das Zusammensein mit ihr, zu dem Clara sich entschließen muss, lässt in dieser die Erkenntnis reifen, dass sie mit dem falschen Mann verheiratet sei. Sie zieht denn auch die Konsequenzen.

Lily und Clara fangen gemeinsam neu an. Sie haben zwar die Freiheit gewonnen, müssen jetzt aber sehr kleine Brötchen backen.

Ein Frauenfilm, Frauenbilder. Jede muss ihren Lebensumständen, ihren charakterlichen Eigenschaften, ihren Fähigkeiten entsprechend ihren Weg und ihr Ziel finden. Bei Clara ist das verhältnismäßig unkompliziert, bei Lily ist es eine Achterbahn.

Nette Ideen sind dabei, und sie sind auch gut in Szene gesetzt. Aber wesentlich interessanter als die erzählte Geschichte und die ausufernden Einfälle in ihr erscheint die Art und Weise, wie gespielt wird. Ludivine Sagnier ist eine fabelhafte Lily. Sie findet genau die Balance zwischen ihrer Verrücktheit und ihren normalen Momenten, zwischen ihren für sie völlig gewöhnlichen „Ausschweifungen“ und ihrem Leid.

Und die schöne Diane Kruger als Clara? Sie ist „normal“, gibt sich zurückhaltend, sorgt sich unendlich um ihre Schwester, wirkt dann, nachdem sie sich von Pierre getrennt hat, sichtlich erlöst. Man glaubt es ihr – sowohl menschlich als auch darstellerisch.

Thomas Engel