Der grosse Kanton

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Der Schweizer Volksmund bezeichnet ganz Deutschland, den Nachbarn im Norden, als „Grossen Kanton.“ Diesen ironischen Spruch nahm der Satiriker Viktor Giacobbo ernst und entwickelte daraus seine satirische Dokumentation „Der grosse Kanton.“ Deutsche und Schweizer Politiker und Prominente diskutieren mal ernsthaft, mal ironisch Vor- und Nachteile einer deutschen Einbürgerung in die Schweiz, was einen höchst vergnüglichen Film ergibt.

Webseite: www.camino-film.com

Schweiz 2013 - Dokumentation
Regie: Viktor Giacobbo
Buch: Viktor Giacobbo Domenico Blass
Länge: 110 Minuten
Verleih: Camino Filmverleih
Kinostart: 17. Juli 2014

FILMKRITIK:

Aus 26 Kantonen besteht die Schweiz bereits, warum also nicht Deutschland als 27. in die Eidgenossenschaft aufnehmen? Um satte 865% würde sich die Fläche der Schweiz erhöhen, die Bevölkerungsanzahl sogar um 1039%, die bislang größte Stadt Zürich würde sich zwischen Kleinstädten wie Bochum und Wuppertal einordnen und die Anzahl der Minarette würde gleich um 2725% steigen. Man merkt schon: Ganz ernst meint der Satiriker Viktor Giacobbo das Vorhaben nicht, doch die Idee ist verlockend – für beide Seiten. Denn wie die Schweizer Bundesrätin Doris Leuthard es treffend formuliert: Mit einem Beitritt zur Schweiz wäre das Euro-Problem für Deutschland gelöst. Und natürlich auch alle Streitigkeiten über Bankgeheimnis und Steuerflucht ins Ausland, wie ein Schweizer Banker anmerkt.

Deutsche Politiker wie Joschka Fisher und Gregor Gysi scheinen die Möglichkeit eines Zusammenschlusses der beiden Nationen dagegen ein wenig zu ernst zu nehmen und machen ironiefrei auf die Probleme aufmerksam. Wesentlich humorvoller kommentieren dagegen der ehemalige SAT1-Chef Roger Schawinski den Vorschlag und merkt an, dass die Schweiz dann besseres Fernsehen hätte (scheinbar ist das heutige Schweizer Programm überraschenderweise noch schlechter als das deutsche…), Deutschland hätte dafür nach Steffi und Boris endlich wieder einen Top-Tennisspieler: Roger Federer, der im deutschen Duktus natürlich als GRÖTAZ bekannt wäre…

Bei allem Humor, den Giacobbo und sein Co-Autor Domenico Blass mit „Der grosse Kanton (man beachte die ohne „ß“ auskommende Schweizer Schreibweise) entfalten, eine reine Satire ist ihr Film nicht. Schon der Bezug auf die zahlreichen Minarette, die die Schweiz auf einmal hätte, deuten eine ernsthaftere Ebene an, eine Ebene, in der es um das Schweizer Selbstverständnis geht, um die Frage, was die Schweizer Nation ausmacht.

Hier kommt der Blick aufs große Ganze eines Politikers wie Joschka Fischer zum tragen, der stets in historischen Dimensionen denkt und darauf aufmerksam macht, dass die Schweiz lange Jahre – und zwar freiwillig! – Teil Deutschlands war, sich quasi in den Schutz des großen Nachbarn begeben hat. Erst 1848 sagte sich die Schweiz von Deutschland los und entwickelte ihre viel beschworene Neutralität, die selbst den Wirren des Zweiten Weltkriegs standhielt.

Im Deutsch-Schweizer Grenzgebiet zeugt die Enklave Büsingen noch von der einstigen Ordnung: Ein kleines Stück Deutschland umgeben von Schweizer Hoheitsgebiet. Ein Modell für die Zukunft? Wohl kaum, wie es auch Viktor Giacobbo nicht wirklich ernsthaft vorschlägt, sondern allein als fixe Idee in den Raum stellt. Doch das in „Der grosse Kanton“ auf humoristische, aber auch substantielle Weise gezeigte Nachdenken über die Frage eines deutsch-schweizerischen bzw. schweizerisch-deutschen Zusammenschluss verrät viel über die Befindlichkeit und das Selbstverständnisses der kleinen, unabhängigen Nation im Herzen Europas.
 
Michael Meyns