Everything will change

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Wie wird die junge Generation des Jahres 2050 über uns Heutige denken? Werden wir die Monster sein, die eine Million Tier- und Pflanzenarten gefühllos ausgerottet haben? Oder wird man auf uns schauen als ein goldenes Zeitalter, in dem die Menschheit das Ruder noch herumreißen konnte? Dieses Spiel mit dem Blick zurück aus der Zukunft erlaubt es dem Spielfilm- und Doku-Mix von Regisseur Marten Persiel, das Artensterben in einer packenden Zeitreise sinnlich auf die Leinwand zu bannen.

Website: www.farbfilm-verleih.de

Deutschland/Niederlande 2021
Regie: Marten Persiel
Drehbuch: Marten Persiel, Aisha Prigann
Darsteller: Noah Saavedra, Jessamine-Bliss Bell, Paul G. Raymond, Jacqueline Chan, Vibeke Hastrup
Länge: 93 Minuten
Verleih: Farbfilm
Kinostart: 02.06.2022

FILMKRITIK:

Kameraflug über eine rätselhafte, schaurig schöne Landschaft: Alles ist verbrannt im Jahr 2054, Wälder, Wiesen, Äcker. Rot, wohin man sieht, begrenzt nur vom Blau des Meeres und den grauen Wolken eines düsteren Himmels. Die Menschen leben in künstlichen Welten, mit einem Chip am Brustbein und der Unfähigkeit, Fakt von Fake zu unterscheiden. In die Natur zieht es sie nicht mehr. Logisch, sie ist ja auch verschwunden. Niemand vermisst, was er nie gekannt hat. So auch Ben (Noah Saavedra), ein junger Mann Anfang 30, der mit seiner Freundin Cherry (Jessamine-Bliss Bell) und seinem besten Kumpel Fini (Paul G. Raymond) zusammenlebt.

Vieles, was wir heute kennen, ist gestorben in der Welt der jungen Leute. Aber die Musik der „Beach Boys“ hat überlebt. Ben kann gar nicht schnell genug rennen, wenn ein alter Ladenbesitzer wieder gebrauchte Vinylplatten hereinbekommt. Aber was ist das, auf dem Cover? Eine Giraffe, klärt ihn der greise Mann auf. Quatsch, glauben Cherry und Fini. Jeder kann so ein Tier faken. Aber Ben lässt nicht locker. Und so landen die drei schließlich in einem weitgehend unbekannten Bunker, in dem betagte Wissenschaftler eine „Arche“ betreiben: ein Archiv von allen Tier- und Pflanzenarten, die im Jahr 2054 ausgestorben sind. Auf diese Weise lässt sich zurück reisen in die goldenen 2020er Jahre. Damals, erfahren die drei Rebellen, hätten die Menschen die Giraffen, Orang-Utans oder Elefanten noch retten können. Aber dazu hätten sie auf die Wissenschaft hören müssen, die nicht nur den Klimawandel, sondern auch das Artensterben mit verblüffender Genauigkeit vorausgesagt hatte.

Regisseur Marten Persiel macht kein Geheimnis aus der Botschaft, die er mit guter Laune, leichter Hand und ordentlich Tempo auf die Leinwand wirft. Wer aus dem Kino geht, soll möglichst seinen Beitrag leisten gegen das unvorstellbare Ausmaß der bevorstehenden Ausrottung. Eine Million Tier- und Pflanzenarten, so sagen es die in den dokumentarischen Teilen auftretenden Wissenschaftler, werden bis 2050 verschwunden sein. Das klingt unvorstellbar. Deswegen übersetzt die aufs Herz zielende Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm die abstrakte Zahl in sinnliche Bilder von zum Teil grandioser Schönheit und zum Teil schwer auszuhaltendem Schrecken. Was man nicht kennt, schützt man nicht, lautet eine alte Weisheit des Naturschutzes. Deshalb schwelgt Marten Persiel geradezu in faszinierenden Aufnahmen, etwa von fliegenden, ganz flachen Fischen, die hoch in die Luft steigen und mit „Bauchplatschern“ einen Höllenlärm machen.

Das emotionale Konzept von „Everything will change“ ist in sich stimmig, aber es reibt sich an den rational aufklärenden Elementen des Doku-Teils. Zwölf Expertinnen und Experten lässt der Film zu Wort kommen, darunter auch die Filmemacher Wim Wenders und Markus Imhoof. Leider werden die Spezialisten ihres Fachgebiets erst im Abspann namentlich aufgelistet, einen Hinweis während der eingeblendeten Zitate sucht man vergeblich. Und die Fülle dessen, was sie erzählen, ist leider nicht so nachvollziehbar aufbereitet wie in der thematisch ähnlichen Dokumentation „Wer wir waren“ von Marc Bauder, die ebenfalls mit dem Gedankenspiel arbeitet, wie wohl die Menschen des Jahres 2050 auf uns Heutige schauen würden. Dabei sind einige Fakten in Persiels Interviews durchaus interessant und so noch nie gezeigt worden. Aber unterm Strich befrachtet die Informationsflut die eh‘ schon komplexe filmische Struktur mit einer Vielzahl an Daten und Zahlen, die selbst aufmerksame Zuschauerinnen und Zuschauer nicht in Gänze verarbeiten und einordnen können.

Trotz dieser Einwände bleibt der Mut des Filmemachers zu bewundern, gängige Konventionen über Bord zu werfen und sich nicht an etablierte Muster von Doku, Dokudrama oder Spielfilm zu halten. Mit der genialen inhaltlichen Idee, das Aussterben der Arten nicht einfach zu prognostizieren, sondern per Zeitreise sinnlich vor Augen zu stellen, fegt er das Schubladendenken einfach beiseite, ganz ähnlich wie in seinem Debüt „This ain’t California (2012) über die sogenannten „Rollbrettfahrer“, sprich Skater, der ehemaligen DDR. Damals wurde der Regisseur zu Recht dafür kritisiert, die fiktiven Anteile der als Dokumentarfilm firmierenden Geschichte nicht deutlich genug gekennzeichnet zu haben. Aber das ändert nichts am herzerfrischenden Kern des etwas anderen Skaterfilms. In der neuen Arbeit sind die unterschiedlichen Elemente nun leicht voneinander zu trennen. Glücklicherweise geht dadurch nichts an Schwung und Optimismus verloren, mit dem sich Marten Persiel von gängigen Katastrophenszenarien beim Thema Artenschutz abhebt. Alles wird sich ändern. Ob zum Guten oder zum Schlechten, liegt in unserer Hand.

Peter Gutting