Je Suis Karl

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Eine Radikalisierungsgeschichte, die bekannte Muster unterläuft, erzählt Christian Schwochow in seinem neuen Film „Je Suis Karl“, der in der Reihe Berlinale-Special seine Weltpremiere erlebte. Keine Islamisten, sondern Deutsche sind in seinem Drama die Täter, die allgegenwärtige Ängste weiterdenken und radikalisieren. Ein spannendes, ambitioniertes Konstrukt, wuchtig gefilmt und gespielt. Mit Luna Wedler, Jannis Niewöhner und Milan Peschel in den Hauptrollen.

Website: www.pandorafilm.de/filme/je-suis-karl.html

Deutschland/ Tschechien 2021
Regie: Christian Swochow
Buch: Thomas Wendrich
Darsteller: Luna Wedler, Jannis Niewöhner, Milan Peschel, Edin Hasanović, Anna Fialová, Fleur Geffrier, Aziz Dyab, Marlon Boess
Länge: 126 Minuten
Verleih: Pandora
Kinostart: 16.9.2021

FILMKRITIK:

Eine alltägliche Situation: Der Paketbote liefert ein Paket, aus purer Freundlichkeit nimmt Alex (Milan Peschel) es an. Er stellt es in der Wohnung ab, wo seine Frau gerade das Essen bereitet, die kleinen Zwillinge spielen. Er selbst geht noch mal runter, hat etwas im Auto vergessen. Kaum ist er auf der Straße, zerreißt eine Bombe das Haus.

Dass seine Tochter Maxi (Luna Wedler) nicht in der Wohnung war, ist der einzige Lichtblick für Alex, der sich bald ganz der Trauer hingibt. Maxi dagegen ist wütend, rasend wütend. Scheinbar zufällig begegnet ihr auf der Straße der charmante Karl (Jannis Niewöhner), der sie vor hartnäckigen Paparazzi beschützt und nach Prag einlädt. Dort trifft sich eine europaweite Jugendorganisation, die gegen das Diktat und vor allem die Trägheit der Alten kämpfen will. Mit friedlichen Mitteln soll diese „Re/generation-Europe“ genannte Revolution wohlgemerkt ablaufen, was sich allerdings schnell als Anlass für Reden, Feiern und Trinken herausstellt. Viel zu wenig für Maxi, die sich leicht in Karls Bann ziehen lässt, nicht ahnend, dass es Karl war, der als Paketbote die Bombe geliefert hat, die Maxis Familie zerstört hat. Und Karls Pläne, mit Terror gegen das System zu kämpfen, haben gerade erst begonnen.

Schon der Titel von „Je Suis Karl“, den Christian Schwochow nach einem Buch von Thomas Wendrich inszenierte, deutet den Bezug zu einem der meistzitierten Schlachtrufe der linken Szene jüngerer Vergangenheit an: Je Suis Charlie. Nach dem Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo war es für viele Linke und Liberale ihre Porträtfotos auf facebook oder Instagram durch diese Solidaritätskundgebung zu ersetzen. Oft geschah dies reflexhaft, vielleicht auch durch gesellschaftlichen Druck, jedenfalls ohne darüber nachzudenken, ob man zwar ohne Frage den menschenverachtenden Anschlag ablehnt, aber dennoch nicht unbedingt mit allen Entscheidungen des Satiremagazins einverstanden war.

Für einen kurzen Moment wurde die Diskussion eher von Hysterie als von Nachdenklichkeit bestimmt, konnten sich alle, die sich mehr oder weniger als Linksliberal definieren, hinter einem Slogan vereinen. Wie leicht solche Bewegungen missbraucht werden können, wie leicht Enthusiasmus oder Gegnerschaft manipuliert werden können, dass ist der interessanteste Aspekt von „Je Suis Karl.“ Auf dieser Ebene wird von einer nur allzu menschlich wirkenden Radikalisierung erzählt, vom vollkommen verständlichen Hass, den Maxi nach dem Mord an Mutter und Geschwistern entwickelt, der durch das scheinbare Versagen der Polizei, die keinen Täter ermitteln kann, nur noch verstärkt wird. Genau in diesem Moment ist sie gefundenes Fressen für den Verführer Karl, der sie für seine Pläne einspannen will.

Ganz zu Ende gedacht und erzählt ist dieser die Konventionen auf interessante Weise unterlaufende Ansatz dann jedoch nicht. Dass Karl etwa selbst den Anschlag verübt hat, spielt für die eigentlich interessanten Aspekte der Geschichte ebenso wenig eine Rolle wie ein arabischer Migrant, den Alex und die verstorbene Mutter einst nach Deutschland geschmuggelt hatten. Wenn diese Figur am Ende als deutliches Gegenpol zurückgeholt wird, um die Umkehr der Klischees zu vollenden, ächzt und kracht das Drehbuchkonstrukt.

Zum Glück übertüncht Schwochow das etwas zu verkopfte Konstrukt mit seiner wuchtigen Inszenierung, die es auch wagt, die Verführungskraft von Gewalt und Straßenkämpfen viel mehr anzudeuten als ein Film wie „Und Morgen die ganze Welt“, der letztlich vor dem kniff, was er andeutete. „Je Suis Karl“ dagegen deutet in seinen stärksten Momenten an, wie leicht eine im Prinzip positiv besetzte Bewegung, die für die „richtige“ Sache kämpft, in radikale, gewalttätige Gefilde abdriften kann. Allein der Mut, sich auf diese Weise mit einem allgegenwärtigen Thema zu beschäftigen, macht Christian Schwochows Film in der deutschen Kinolandschaft bemerkenswert.

Michael Meyns