Meine Stunden mit Leo

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Ein famos vergnügliches, umwerfend komisches und zugleich nachdenkliches Lehrstück in Sachen Frauenpower präsentiert die zweifache Oscar-Preisträgerin Emma Thomson in diesem Kammerstück über Sex, Lügen und Einsamkeit. Das Liebesleben der pensionierten Lehrerin fiel bislang denkbar bescheiden aus. Das will die Witwe nun nachholen mit Hilfe des titelgebenden Gigolos Leo Grande. Der attraktive Sexarbeiter erweist sich als redegewandter Frauenversteher. Seinem Charme erliegt die Pädagogin – und ebenso das Publikum. Der junge Ire Daryl McCormack und die erfahrene Emma Thompson liefern sich geschliffene Dialog-Duelle vom Feinsten sowie hübsch ausgespielte Situationskomik. Im letzten Bild zieht Emma gar blank: Eine „Berlinackte“ der selbstbewussten Art mit reichlich Arthaus-Hit-Potenzial.

Webseite: www.wildbunch-germany.de

Weltpremiere Sundance Film Festival. Internationale Premiere Berlinale Special.

UK 2022
Regie: Sophie Hyde
Darsteller: Emma Thompson, Daryl McCormack
Filmlänge: 97 Minuten
Verleih: Wild Bunch Germany
Kinostart: 28.08.2022

FILMKRITIK:

„Ich hatte noch nie einen Orgasmus!“ - „Mit Ihrem Partner?“ - „Nein, überhaupt noch nie!“. So klingen die Gespräche zwischen der 55-jährigen Nancy Stokes (Emma Thompson) und dem attraktiven Escort Leo Grande (Daryl McCormack), den sie in ein Hotelzimmer bestellt hat. Der charmante Gigolo erweist sich als einfühlsamer Frauenversteher. Alle Bedenken der zögerlichen Kundin wischt er mit einem lässigen Lächeln souverän weg, verteilt gekonnt Komplimente und gewinnt rasant das Vertrauen der pensionierten Pädagogin. „Du wärst der zweite Mann, mit dem ich jemals Sex hatte“, gesteht sie schon nach wenigen Minuten mit unsicherer Stimme. „Wenn du etwas nehmen möchtest, ist es okay für mich. Ich meine, legale Sachen“, schiebt Nancy als Vorschlag hinterher. Leo weiß, welche Knöpfe er drücken muss bei derart zaghaften Kundinnen. Mit sanfter Stimme erzählt er, dass durchaus auch 82-jährige Damen zum zufriedenen Kundenkreis gehörten. Oder behinderte Frauen. Oder Männer mit sehr ausgefallenen Wünschen. Langsam, aber sicher taucht Nancy auf, erliegt dem eleganten Verführer immer mehr – bis ein Mars-Riegel die Idylle unerwartet unterbricht. Leo Grande beweist freilich in vielen Gebieten Größen. So kommt es schließlich zu einem Kuss. Der Vorhang fällt. Das nächste Kapitel beginnt.

Sichtlich auf den Geschmack gekommen, bestellt die Witwe den gutaussehenden Gigolo ein zweites Mal in das Hotel. Diesmal hat die Lehrerin eine ganze Liste aufgeschrieben, die abgehakt werden soll: „Oral Sex bei dir. Oral Sex bei mir. Wir machen 69, wenn man das noch so nennt.“ Leo reagiert gewohnt verständnisvoll. „Es ist ein Orgasmus. Kein Fabergé-Ei. Leute haben das jeden Tag.“, nimmt er Nancy lächelnd ihre Nervosität. Als der Strahlemann sein Hemd auszieht und den makellos trainierten Oberkörper präsentiert, löst der Anblick die nächste Krise aus. Sie habe sich schon immer für ihren Körper geschämt, klagt die Witwe. Abermals erweist sich der Gigolo als Gentleman mit smartem Rat. So kann zumindest der erste Punkt der Liste abgearbeitet werden. Erneut fällt der Vorhang. Die weiteren Begegnungen jedoch bieten unerwartete Wendungen. Die Karten werden neu gemischt. Ob es dennoch zu einem Happyend kommt? Nur so viel sei verraten: Am Ende steht die zweifache Oscar-Preisträgerin völlig nackt im Bild. Hat mit neuem Selbstbewusstsein ihren Körper schätzen und lieben gelernt. Welcher Hollywoodstar hätte ähnlichen Mut?

Selbstbewusst gibt sich die 62-jährige Schauspielerin ohnehin, da sind Falten eben Falten und graue Haare ohne Färbung. Die vor vier Jahren von der Queen zur Dame geadelte Künstlerin hat spürbar Spaß an dieser Tragikomödie über eine Heldin, die nach lebenslangem Dornröschenschlaf endlich wachgeküsst wird und das Leben und die Liebe zu sich selbst ganz neu entdeckt. Ein Zweipersonen-Stück beschränkt auf nur einen Raum, verlangt den Darstellern einiges an Können ab. Makellos gelingt der vielfach prämierten Emma Thompson mit kleinen Gesten das gekonnte Spiel zwischen Schüchternheit, Neugier und zögerlicher Leidenschaft. Ähnlich überzeugend präsentiert sich der 29-Jährige Daryl McCormack, dessen Leinwandpräsenz jede Kamera liebt. Auch er erreicht scheinbar mühelos mit kleinem Aufwand große Wirkung. Gibt den strahlenden Sieger ebenso glaubwürdig wie den nachdenklichen Zweifler. Die Chemie zwischen dem Duo stimmt erstklassig. Ob und wie Body-Doubles zum Einsatz kamen, ist zweitrangig. Da gibt es ganz andere Themen, die ein erstklassig unterhaltenes Publikum nach dem Kino bewegen dürften.

Dieter Oßwald

 


Er wäre der zweite Mann, mit dem sie in ihrem Leben Sex hat gesteht Nancy Stokes (Emma Thompson) Leo Grande (Daryl McCormack). Dementsprechend nervös ist die pensionierte Lehrerin, als es in dem schicken Hotelzimmer in London zur Sache gehen soll. Seitdem ihr Ehemann vor zwei Jahren verstarb, trägt Nancy den Wunsch mit sich, zu erfahren, ob es mehr  gibt als nur den routinierten, langweiligen Sex, denn sie jahrelang mit ihrem Mann erlebte.

Nun hat sie den Mut gefunden und Leo Grande gebucht, einen jungen, attraktiven, redegewandten Mann, der natürlich nicht Leo Grande heißt. Er ist eine Phantasie, eine Oberfläche, fast ein Roboter, der alles sein kann, was die Kundin möchte. Doch Nancy war nicht umsonst Lehrerin, hat das Bedürfnis verinnerlicht, jüngeren Menschen zur Seite zu stehen und ihnen zu helfen. Aber auch die unterschwellige Arroganz einer weißen Person aus der Mittelschicht, die besser zu wissen glaubt, was richtig und falsch ist, welchen Werten man folgen sollte, wie man sein Leben zu leben hat, erst recht, wenn das Gegenüber nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft angehört.

Wie ein Theaterstück ist Sophie Hyde Zweipersonenfilm aufgebaut, vier Mal treffen sich Nancy und Leo, vier Begegnungen, in denen mehr über Sex geredet wird, als Sex gezeigt wird, vier Begegnungen, in denen es vorgeblich um Nancys Wunsch geht, bestimmte sexuelle Praktiken zu erleben, die ihr bislang verwehrt blieben, in Wirklichkeit aber um das Akzeptieren von dem, was man ist.

Man nimmt Emma Thompson die schüchterne, an sich selbst zweifelnde Lehrerin zwar nicht ganz ab, etwas zu gewollt mutet ihre Figur und ihre Lebenssituation an. In den schwächeren Momenten wirkt „Meine Stunden mit Leo“ dann auch wie eine Boulevardkomödie, die den forcierten Konflikt, die extremen Gegensätze bis zum letzten Gag auszuquetschen versucht.

Viel interessanter als die Gespräche über Oralsex und Orgasmen sind jedoch die Risse, die langsam in den Facaden der beiden Figuren entstehen. Anfangs spielen beide eine Rolle, versucht Leo der gewandte Sex-Arbeiter zu sein, der Privates und Beruf konsequent trennt, während Nancy scheinbar nicht mehr will, als Sex. Doch nach und nach, nicht zuletzt durch die Gewissensbisse Nancys, die sich fragt, ob sie unmoralisch agiert – kein Wunder, war sie doch Religionslehrerin… - nähern sich Leo und Nancy auch emotional an.

Die Frage, ob es Nancy schließlich endlich gelingt, einen Orgasmus zu haben, verschwindet zunehmend hinter der viel bedeutenderen Frage, ob sie lernt sich so zu akzeptieren wie sie ist. Vor allem aber: Ihr Gegenüber so zu akzeptieren, wie er ist: Der Vertreter einer jüngeren Generation, die andere Werte und Moralvorstellungen hat als Nancys. Ohne aufdringlich zu sein erzählt „Meine Stunden mit Leo“ so vom sich wandelnden Zeitgeist, von Toleranz gegenüber anderen, aber auch sich selbst und wird dadurch zu mehr als nur einem oberflächlichen Film über Tabus und Orgasmen.

 

Michael Meyns