Saint Omer

Zum Vergrößern klicken

Der Mord einer Mutter an ihrer 15 Monate alten Tochter, familiäre Traumata, Rassismus in westlichen Gesellschaften und vorschnelle Aburteilungen – Alice Diop greift in ihrem Debütfilm eine Vielzahl an komplexen, herausfordernden Themen auf. Als wäre das nicht genug, garniert sie ihr schlicht und aufmerksam umgesetztes Justiz-Drama mit mythologischen Anspielungen und einer esoterisch-spirituellen Note. Eine filmische Arbeit, die vom Zuschauer Konzentration einfordert und die unbedingte Bereitschaft, sich nicht zu stark von eigenen Vorurteilen und Emotionen leiten zu lassen.

Webseite: www.grandfilm.de/saint-omer/

Frankreich 2022
Regie: Alice Diop
Drehbuch: Alice Diop, Amrita David
Darsteller: Kayije Kagame, Guslagie Malanda,
Valérie Dréville

Länge: 122 Minuten
Kinostart: 09. März 2023
Verleih: Grandfilm

FILMKRITIK:

Rama (Kayije Kagame) arbeitet als Schriftstellerin und Professorin in Paris. Sie reist in die kleine französische Gemeinde Saint-Omer und verfolgt dort den aufsehenerregenden Prozess gegen Laurence Coly (Guslagie Malanda). Die Philosophiestudentin ist des Mordes an ihrer kleinen Tochter angeklagt. Obwohl sie das Kind am Strand den Fluten überlassen hat und dies auch zugibt, pocht sie auf ihre Unschuld. Für Rama wie für alle anderen Beobachter scheint schnell klar: Laurence ist schuldig und verantwortlich für ein unbeschreibliches Verbrechen. Doch im weiteren Verlauf der Verhandlung und je mehr Rama über die tragischen Ereignisse und Traumata im Leben von Laurence erfährt, desto mehr muss sie ihre angeblichen Gewissheiten hinterfragen.

Die französische Dokumentarfilmerin Alice Diop beleuchtet in ihrem ersten Spielfilm das Schicksal weiblicher afrikanischer Migranten, die voller Hoffnung in die westliche Welt kommen – und in ihrer neuen Heimat nur Ausbeutung, Rassismus und die Tücken eines (bürokratischen) Systems erfahren, das sich nicht ausreichend um die Schwächsten kümmert. Dabei wäre es ein Leichtes, als Betrachter dieses, im letzten Jahr in Venedig mit dem Großen Preis der Jury prämierten Films, Laurence Coly gegenüber ausschließlich Empörung und Wut zu empfinden.

Natürlich ist es ein durch nichts zu entschuldigendes, dramatisches Verbrechen, das hier verhandelt wird. Und auf welchem dieser Film basiert (die wahre Geschichte trug sich Ende 2013 im französischen Badeort Berck zu). Daraus macht Diop keinen Hehl. Dennoch fordert die 43-jährige Filmemacherin zum genauen Hinsehen auf. Und dazu, die Hintergründe sowie schicksalhaften Begebenheiten im Leben der Verurteilten genau zu betrachten.

Mit ihrer konzentrierten Regie und den ausgiebigen Nah- bzw. Großaufnahmen der Gesichter der Hauptfiguren, vor allem der beiden weiblichen, konfrontiert Diop uns ganz unmittelbar mit den Emotionen von Rama und Laurence. Bisweilen durchbricht Diop die vierte Wand, da der direkte Blickkontakt mit dem Kinobesucher gesucht und hergestellt wird. Kayije Kagame und Guslagie Malanda verleihen ihren Figuren Würde und Tiefe. Und setzen ganz auf eine zurückgenommene, fast ausdruckslose Mimik.

Eine besonders interessante charakterliche Entwicklung macht Rama durch, die zunächst ebenso schnell urteilt wie viele andere. Doch im Zuge der Verhandlung immer mehr Gemeinsamkeiten zwischen sich und der Angeklagten erkennt. Beide stammen sie aus dem Senegal, sind im gleichen Alter und interessiert an Mythologie und Philosophie. Beide Frauen kennen komplizierte Familienverhältnisse aus eigener Erfahrung, ebenso wie Ausländerfeindlichkeit. Der wohl größte Unterschied: Laurence hat ihr Kind verloren, Rama erwartet bald ihr erstes Baby.

Diese spannend ausformulierte Spiegelung der Lebenswege und Biographien der zwei Hauptcharaktere zählt zu den interessantesten Elementen dieses, gleichsam Esoterik, mystische Frauengestalten und religiöse Themen miteinbeziehenden Justiz-Thrillers. Dabei bezieht sich Diop immer wieder auf die berühmte Medea-Sage aus der griechischen Mythologie. Medea war eine willensstarke, emanzipierte und zur Zauberei fähige Königstochter, die von ihren Mitmenschen und aufgrund unglücklicher Umstände zu einer schlimmen Gräueltat getrieben wurde: der Ermordung ihrer Kinder. Dahinter verbergen sich jedoch menschliche Abgründe und das Versagen eines ganzen Systems – all dies macht den Vergleich mit dem Fall Laurence Coly so passend und spannend.

 

Björn Schneider