Sofia’s Last Ambulance

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Der Einsatz im Krankenwagen wirkt vertraut: Rettungsfahrer Plamen rast durch Sofia, sodass die Krankenschwester Mila sich angsterfüllt irgendwo im Cockpit festklammert. Nur der grauhaarige Rettungsarzt Krassi bleibt immer ruhig. Es geht zu Unfallopfern, Drogensüchtigen, Zusammenbrüchen und auch zu Leichen. Denn dieser Rettungswagen ist einer der nur 13 Ambulanzen, die in der bulgarischen Hauptstadt Sofia für zwei Millionen Menschen unterwegs ist und da scheint es normal zu sein, dass auf der Warteliste fast 20 dringende Notfälle abzuarbeiten sind. Obwohl sich Ilian Metev in seinem Dokumentarfilm konsequent auf seine drei Protagonisten konzentriert, entwickelt sich bei diesem Einblick langsam die Außenperspektive einer haarsträubenden Gesundheitssituation mit.

Webseite: www.sofia.wfilm.de

Sofia`s Last Ambulance - Poslednata lineika na Sofia
Bulgarien, Deutschland, Kroatien 2012 - Dokumentarfilm
Regie: Ilian Metev
Kamera: Ilian Metev
Länge: 75 Minuten
Verleih: W-film Distribution
Kinostart: 14. März 2013

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Im Krankenwagen, der unter Blaulicht mächtig klappert, sieht es aufgeräumt leer aus. Ob es den Begriff Gerätemedizin auf Bulgarisch gibt? Hier wird er jedenfalls nicht gebraucht. Dramatisch wird es mit einem wohl irgendwie unter Drogen stehenden Unfallopfer, das trotz gebrochenem Bein im Wagen aufstehen und sowieso nicht stillhalten will. Da ist Notversorgung noch richtig handgemacht. Geduldig kümmert sich Krankenschwester Mila später um ein weinendes Mädchen, das mit einem Schrank umgefallen ist. Später hören wir, dass Mila selbst eine Tochter zu Hause hat, aber ansonsten erfahren wir nicht mehr vom Privatleben der Protagonisten. Die Frage, ob er Probleme zuhause hätte, wehrt Krassi ab. Trotzdem erfahren wir eine ganze Menge - genau das was wir in dieser besonderen Dokumentation sehen und hören.

Anders als bei der Flut von sogenannten Reality-Formaten und Scripted Reality im Privaten Fernsehen, kommt die konzentrierte Beobachtung ihren Figuren ohne abgefragte Seelenbekenntnisse nahe. Nicht weil die Kameras erstaunlich dicht dran sind und die Erschöpfung von zu vielen Überstunden festhalten. Oder die Anspannung von Mila, wenn für ihren Geschmack wieder zu schnell zum Einsatzort gerast wird und sie die Jungfrau Liliana anfleht. Einnehmend ist auch der Rhythmus von ruhigen Gesprächen und Zigarettenpausen, die mit den Amaturenbrett-Kameras aufgenommen werden, sowie hektischen Einsatz-Szenen, bei denen eine Handkameras dabei ist. Das wird dann auch mal spannend, immerhin geht es um Leben und Tod.

Dabei zeigen sich langsam unglaubliche Zustände: Nach einer Suche in dünn besiedelten Randbezirken finden sie eine Leiche, deren Kopf schon von Würmern zerfressen ist. Ein Anblick, der selbst die Profis sichtlich schockt. Zum Glück sieht man auch diesen „Patienten“ nicht. Später stellt sich heraus, dass die Frau mit einem Tumor im Kopf als „Verrückte“ eingeschätzt wurde. Wegen extrem geringer Bezahlung - 340 € im Monat für den Rettungsarzt - sind Doppelschichten und Nebenjobs nötig. Dagegen gibt es den Patienten, bei dem nichts zu erkennen ist, aber seine Frau will für alles zahlen und ihn unbedingt ins Krankenhaus bekommen. Ein paar Gedanken zu einer unanständig reichen Villa, bei der sie wohl vorher im Einsatz waren, komplettieren das Bild eines krassen Vermögensgefälles.

Doch die drei vom Rettungswagen zeigen sich gut gelaunt und engagiert, selbst wenn sie ohne Einsatz wieder zurückfahren, weil sie die eigene Notrufzentrale nicht erreichen und in einer Warteschleife hängen. Zwischendurch pflücken sie sich frisches Obst von einem Baum und schauen erschreckt wegen der ernsten Warnung: „Und passt auf, dass ihr nicht verprügelt werdet.“

Ilian Metevs Langfilm-Debüt, das bei seiner Premiere in Cannes mit dem Visionary Award der Semaine de la Critique ausgezeichnet wurde, behält konsequent seinen Blick auf die drei Protagonisten bei. Wir sehen kaum jemand anderen, ganz selten mal die Sicht des Fahrers. Wir blicken im Prinzip in eine Blase, was nur kurzzeitig irritiert, weil sich diese Innenperspektive als sehr fesselnd erweist. Der Reiz dieser außergewöhnlichen, „puren“ Dokumentation liegt auch in ihrer nüchternen Betrachtung, in ihrer stilistischen Reinheit.

Ilian Metev wurde 1981 in Sofia geboren. Zunächst verfolgte er eine Karriere als Konzertviolinist und begeisterte sich zunehmend dafür, die musikalische Form mit der Filmsprache zu verbinden. Sein Abschlussfilm „Goleshovo” (2008) an der National Film and Television School wurde auf über 60 Festivals gezeigt und erhielt 17 Preise. „Sofia‘s Last Ambulance” ist sein erster abendfüllender Film, er entstand mit Unterstützung der Film- und Medienstiftung NRW sowie des WDR. Und ganz ohne dass man ihn als kleine Perle des „direct cinema“ sieht, zieht der gelungene Film mit hinein in den Alltag dieser drei Menschen und vermittelt unaufdringlich und kaum merkbar über einen reduzierten Blickwinkel Erfahrungen einer anderen Außenwelt. Erst das letzte Bild zeigt eine dieser üblichen Aufnahmen der Stadt Sofia und man merkt bei der Fahrt über eine Stadtautobahn, wie wenig die eigentlich erzählt.

Günter H. Jekubzik