Alice und das Meer

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Seefahrtsromantik bietet der fast dokumentarisch anmutende Debütfilm der französischen Schauspielerin Lucie Borleteau, die ihre Karriere einst als Assistentin von Kultregisseurin Claire Denis begann, keine. Bemerkenswert ist vielmehr, dass sie ihre starke Geschichte um erotische Freiheit aus dem Blickwinkel einer selbstbewussten „Meer-Frau“ und Maschinistin erzählt. Auf See, in einer Männerwelt, versucht ihre sinnliche Hauptdarstellerin Ariane Labed ihre Sexualität und ihr Lebensglück zu bestimmen. Der in Griechenland als Tochter französischer Eltern geborenen charismatischen Schauspielerin gelingt diese Odyssee zwischen des Meeres und der Liebe Wellen psychologisch glaubwürdig.

Webseite: www.filmkinotext.de

Frankreich 2014
Regie: Lucie Borleteau
Drehbuch: Lucie Borleteau, Clara Bourreau, Mathilde Boisseleau
Darsteller: Ariane Labed, Melvil Poupaud, Anders Danielsen Lie, Pascal Tagnati, Jean-Louis Coulloc’h, Nathanaël Maïni, Vimala Pons.
Kamera: Simon Beaufils
Länge: 97 Minuten
Verleih:  FilmKinoText
Kinostart: 15.9.2016
 

FILMKRITIK:

Die Mechanikerin Alice (Ariane Labed) behauptet sich in einer Männerwelt. Als Matrosin fährt die junge Frau auf dem verrosteten  Frachter „Fidelio“ zur See, der sinnigerweise den Namen von Beethovens einziger Oper trägt. Sie liebt das Meer und seine unendliche Weite. An Bord erfährt sie, dass ihr Vorgänger nach einem Unfall starb. Zufällig findet sie sein Tagebuch in ihrer Kajüte. Trotzdem beweist die 30jährige im brachialen Lärm des Maschinenraums der ausschließlich männlichen Crew immer wieder ihr Können. Dass freilich ausgerechnet ihre erste große Liebe aus ihrer Kadettenzeit, Kapitän Gaël (Melvil Poupaud) das Kommando auf dem Schiff führt, verunsichert sie dagegen mehr.
 
Ein sehnsüchtiges Gefühl von Vertrautheit vermischt sich mit Ängsten. Denn an Land wartet ihr norwegischer Freund Felix (Anders Danielsen Lie) auf sie. Frischverliebt will sie den aufstrebenden Comiczeichner nicht hintergehen.  Doch bald schon lösen sich ihre Skrupel auf. Schließlich umwirbt sie der verheiratete Gaël heftig. Offensiv macht sie den ersten Schritt und lässt sich im Sturm der Gefühle auf eine Affäre ein. „Was auf dem Meer passiert, bleibt auf dem Meer“, hofft sie etwas naiv. Doch dieser Spruch bewahrheitet sich freilich nicht. An Land, bei ihrer Familie in Marseille, holen sie die Ereignisse ein. Vom Sog der Geschehnisse erfasst, steht die attraktive Bordingenieurin an einem Wendepunkt.
Das Spiel mit den Facetten des Begehrens treibt diesen halbdokumentarisch anmutenden Film über Dinge, die Seeleute einem Leben auf dem Meer opfern, und über die Sehnsucht, die sie immer wieder hinaus treibt, voran. Regisseurin Lucie Borleteau lässt ihre Protagonistin mit Gefühlen jonglieren, Blicke wechseln, ausbrechen, sich wieder fangen, Skrupel haben und verzweifelt sein. Und sie hat dafür ein stimmiges Schauspieler-Ensemble. Konsequent gesteht sie die von Männern besetzte erotische Freiheit der Matrosen auch einer Frau zu. Vor allem Ariane Labed in der Rolle der sinnlichen jungen Frau ist eine vielversprechende Entdeckung, eine selbstbewusste Heldin wie aus den Kultfilmen von Claire Denis.
 
Bruchstückhaft  skizziert das realistisch, poetische Melodram aber auch den schwierigen Alltag von Seeleuten. Unsolide Reedereien lassen sie immer öfter verantwortungslos an irgendwelchen Häfen stranden. Nicht selten bekommt die Mannschaft dann nur eine spärliche Abfindung und verteilt sich danach in alle Himmelsrichtungen. Last but not least ist das starke Regiedebüt fast eine Hommage an Marseille, dessen Hafen langsam stirbt, aber dessen morbider Zauber noch immer nicht erlosch. Genussvoll schwingt bei dieser Hymne auf das Meer mit seiner Faszination des unendlichen Horizonts und dem wiegenden Schaukelns der Schiffe die klassische Abenteuerlust eines weiblichen Odysseus mit.

Luitgard Koch