Die rote Schildkröte

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In seinem ersten Langfilm erzählt Trickfilmer Michael Dudok de Wit („Der Mönch und der Fisch“, „Vater und Tochter“) ohne Dialoge eine poetisch-allegorische Geschichte vom Kreislauf des Lebens. Ein Mann strandet auf einer einsamen Insel und trifft auf eine mysteriöse rote Schildkröte, die ihn mit aller Macht daran hindert, diese wieder zu verlassen. Außerordentlich liebevoll animiert, beeindruckt „Die rote Schildkröte“ vor allem durch die wechselnden Wetterstimmungen, die de Wit in zartesten Nuancen einfängt.

Der Film wurde in der Kategorie „Bester animierter Spielfilm“ für einen Oscar 2017 nominiert, zudem für einen César, dem europäischen Filmpreis und den Critics´Choice Movie Awards 2017.

Webseite: www.universumfilm.de

Frankreich, Japan, Belgien 2016
Regie: Michael Dudok de Wit
Drehbuch: Michael Dudok de Wit
Musik: Laurent Perez del Mar
Länge: 80 Minuten
Verleih: Universum Film
Kinostart: 16. März 2017

FILMKRITIK:

Michael Dudok de Wit ist für seine poetischen, in zarten Tuschezeichnungen hingehauchten Kurzfilme bekannt. In der Zen-Erzählung „Der Mönch und der Fisch“ (1994) verfolgt ein Mönch unablässig einen kleinen Fisch, zunächst im Klosterteich, dann durch Kanäle und Staustufen in die Welt hinaus. Was als Verfolgungsjagd beginnt, wird unmerklich zu einem harmonischen Tanz von Fisch und Mönch, der Ehrgeiz des kleinen Menschen wird zu einem Eintauchen in den Rhythmus der Natur. In „Vater und Tochter“ (2000), der den Oscar für den besten Animationskurzfilm gewann, radelt ein kleines Mädchen mit ihrem Vater über den Deich zu einer Pappelallee. Der Vater rudert aufs Meer hinaus und kommt nicht wieder zurück. Ihr ganzes Leben lang, als Mädchen, Verlobte, Mutter und alte Frau, im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter, kehrt das Mädchen mit dem Fahrrad auf den Deich zurück und besucht die Leerstelle, die der abwesende Vater hinterlassen hat.

Auch „Die rote Schildkröte“, de Wits erster Spielfilm, zu dem der Zeichner, der das kurze Format eigentlich nicht verlassen wollte, vom japanischen Studio Ghibli („Prinzessin Mononoke“, „Chihiros Reise ins Zauberland“) erst überredet werden musste, erzählt wieder eine allegorische Geschichte von den Rhythmen des Lebens. Ein Mann wird von einem Sturm auf einer einsamen Insel angeschwemmt.  Die Mitte der Insel bedeckt ein dichter grüner Bambuswald, drumherum sind graue Felsen, gelber Sand und ein meist spiegelglattes, tiefblaues Meer, das sanft an den Strand plätschert. Wie schon in den Kurzfilmen ist de Wit ein Meister darin, die unterschiedlichen Licht- und Wetterstimmungen, die diese zugleich karge und üppige Landschaft durchwandert, abzubilden. Oft sind es nur kleine Nuancen, ein Himmel, der sich von Blassblau zu Meerblau verdunkelt, Schatten, die im Laufe des Tages kürzer und dann wieder länger werden, kleine Wellen, die bei Gegenwind kleine Schaumkronen bilden. Einmal fegt auch ein Tsunami über die Insel und allein für die Details mit denen de Wit dieses Naturereignis vom ominösen Verschwinden des Wassers bis zu der gewaltigen Woge, die sich durch den Bambuswald frisst, inszeniert, lohnt es sich, „Die rote Schildkröte“ zu sehen.

Der Gestrandete macht sich zunächst mit der Insel vertraut, dann baut er aus Bambusstämmen ein Floß, um die Insel wieder zu verlassen. Doch wieder und wieder wird das Floß in Sichtweite der Küste von einer rätselhaften Macht zertrümmert. Erst beim dritten Versuch entdeckt der Mann die Ursache, eine große rote Meeresschildkröte. Majestätisch, bedrohlich und geheimnisvoll schwebt sie im Wasser. Erst als sie ihm an Land folgt, offenbart sich ihr Geheimnis: aus der Schildkröte wird eine rothaarige Frau, und unser Held gibt seine Ausbruchsversuche auf. Das Rad des Lebens dreht sich weiter. Aus dem Wanderer wird ein Vater. Aus Zweien werden drei. Der Sohn wächst heran und wird selbst  zum Wanderer. Und der kleine Kreis reduziert sich wieder, bis am Schluss eine allein übrig ist und in die Natur zurückkehrt.

Die allegorische Erzählung fließt hypnotisch dahin, die Zeichnungen sind durchgehend hinreißend, und dem Treiben der Wolken, die de Wit in den Himmel zeichnet, hätte ich noch stundenlang zusehen können. Die Ideen, die der rudimentäre Plot von „Die rote Schildkröte“ propagiert, fand ich dagegen bedenklich deterministisch: der naturgewollte Kreislauf des Lebens, die absolute Priorität von Familie, die Tugend der Akzeptanz, des sich Fügens in das vorherbestimmte biologische Daseinsmuster.  Diese Ideen sind natürlich auch schon in den  Kurzfilmen angelegt, wirken dort aber viel weniger wuchtig, eher wie Momentaufnahmen eines flüchtigen Gefühls. Die Chance zu größerer Komplexität, die ein Langfilm bietet, hat de Wit leider nicht genutzt. Trotzdem zählt „Die rote Schildkröte“ allein schon wegen der Zeichnungen zu den herausragenden Animationen der letzten Jahre und wurde in Cannes 2016 mit dem Jurypreis in der Sektion „Un certain regard“ ausgezeichnet.

Hendrike Bake