Manche hatten Krokodile

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Ein Glücksfall fürs Kino! Christian Hornungs Dokumentarfilm ist eine Liebeserklärung an das alte St. Pauli zwischen Hafen, Fußballstadion und Halbweltschuppen. Tatsächlich spielt all das eine Rolle, ebenso die Sparclubs, die hier in ein paar Kiezkneipen überlebt haben. Doch am wichtigsten sind die Menschen, die ihre Geschichten erzählen. Mit viel hanseatischem Understatement und einer gehörigen Portion Charme zeigt Christian Hornung seine Zuneigung zu einem Stadtteil, der sich allzu schnell verändert. Ein Film mit Kultpotential, ein Film zum Liebhaben.

Webseite: www.facebook.com/manchehattenkrokodile

Deutschland 2016
Buch und Regie: Christian Hornung
Bildgestaltung: Martin Neumeyer
Musik: Nadja Rüdebusch & Eike Swoboda
Länge: 87 Minuten
Verleih: Tamtam Film, Vertrieb: Barnsteiner Film
Kinostart: 10. November 2016

FILMKRITIK:

Unabhängig von allem anderen, weshalb dieser Film so wunderbar und so liebenswert wie wichtig ist, dass man ihn gar nicht genug über den grünen Klee loben kann: Er ist einfach richtig gut gemacht. Christian Hornung hat sich für eine verhältnismäßig strenge Form entschieden. Er arbeitet oft mit festen Kameraeinstellungen, sowohl in den engen Innenräumen – zum Beispiel in den großenteils ziemlich abgeranzten Kneipen, die als Hintergrund für die faszinierenden Menschen dienen, um deren Geschichten sich der Film dreht. Die Kamera steht und schaut zu.
 
Hausfassaden und Bauzäune bilden den pittoresken, gelegentlich überraschend wandelbaren Hintergrund für Hornungs Geschichte von St. Pauli und den Menschen, die hier leben. Die Fassaden sind nicht nur spannend und interessant anzusehen – sie sind ein Symbol fürs Offenkundige und für die Oberfläche, hinter der sich das Wesentliche verbergen könnte. Doch tatsächlich sind sie hier viel mehr: Zeugen der Geschichte eines Stadtteils, seiner Menschen und der Veränderungen, die auch vor St. Pauli nicht Halt machen. Die Fassaden haben ein Geheimnis, das sie hinter zuplakatierten Wänden, hinter vollgepappten Türen, ungeputzten Fenstern oder 60er Jahre-Werbesprüchen verbergen. Manchmal lüftet es sich, manchmal wird es von der Zeit überholt, wenn aus einer ollen Bierschwemme eine hippe Kneipe wird, scheinbar innerhalb von Sekundenbruchteilen, während ein Tanklaster durchs Bild fährt. Und manchmal wird es rührend, so wenn sich endlich das Geheimnis lüftet, warum hinterm Bauzaun ein Wassernapf steht.
 
Und so ist der Film. Die Menschen zeigen eine Fassade: Sie sind alle Mitglieder in einem Sparclub. Das ist ihr Außen, ihre kleine Gemeinsamkeit. Aber sie alle hier tragen Geschichten in sich, die oft unglaublich sind, witzig oder rührend, Geschichten vom Leben: die Gestrandeten, die Möchtegern- oder echten Seeleute, die Ex-Huren und Stripperinnen, die ollen Zuhälter, die sich früher die Zigarren mit Hunderten angesteckt haben und heute kaum noch was zu beißen haben, die Transe aus der Eiergasse, Kneipiers und Bardamen und der Automatenspieler: „Ich bin kein Spieler, aber wenn ich gewinne, dann gewinne ich.“
 
Man lernt sie langsam kennen, meist heftet sich die Kamera an ihre Fersen, begleitet sie aus der Wohnung, die man nicht sieht, in das Stammlokal, wo irgendwo an der Wand der Sparkasten hängt, eine Art Gemeinschaftssparbüchse, wo jeder wöchentlich so viel einzahlt, wie er kann. Die Kneipe, die „Utspann“ heißt oder „Kaffeepause“, ist ihr zweites Zuhause, der Sparclub ihre Familie. Da geht es deftig zu, aber immer irgendwie charmant. Der Zigarettenqualm scheint von der Leinwand zu wabern, den kalten Rauch und das schale Aroma, das aus den gebrauchten Bierflaschen weht, kann man beinahe riechen. Ewig blinken und blitzen die Spielautomaten, an den Wänden hängen Fußball-Devotionalien oder ein abgeblättertes Fresko im Nachkriegsstil, auf dem sich eine halbnackte Olala-Dame räkelt. Diese ollen Kneipen und ihre ebenso liebenswerten wie originellen Bewohner – von Gästen mag man hier gar nicht sprechen – erzählen aus ihrem Leben. Manche sind hier gestrandet, manche gescheitert, abgestürzt aus den Höhen der guten, alten Zeit. Aber sie jammern nicht, sie trauern der Vergangenheit nicht hinterher. Sie berichten mit pfiffigem Grinsen oder weltmännischem Charme, mit hanseatischer Kühle und dennoch humorvoll von ihrer Zeit als Tunichtgut und Tagedieb oder von guten wie schlechten Jahren. Hier haben sie alle ein Zuhause gefunden. Sie sind hier gestrandet oder hängen geblieben. Sie haben viel Geld verdient und viel ausgegeben. „Wie gewonnen, so zerronnen“ – das hört man hier öfter, aber es macht nichts. Sie haben ihren Sparclub und ihre Kneipenfamilie.
 
Das ist oft sehr lustig, nur selten kommt so etwas wie Wehmut auf – nicht bei den Protagonisten, die sind von hanseatischem Pragmatismus beseelt, auch wenn sie eigentlich nicht von der Elbe, sondern aus Österreich oder von sonstwo kommen. Die Wehmut hat etwas damit zu tun, das ihre kleine, merkwürdige Welt bald nicht mehr da sein wird. Aber dann wird es immer noch diesen Film geben, als Erinnerung
für künftige Generationen.
 
Christian Hornung hat ein tolles Stück Filmkunst geschaffen, mit Humor, Herz und sehr viel Verstand ausgedacht und gekonnt in Bilder umgesetzt. Ein Film zum Lachen und zum Staunen mit Menschen, die man lieben muss. Und vor allem: ein unvergessliches Filmerlebnis!
 
Gaby Sikorski