Aggregat

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Politische Dokumentationen sind dann am besten und wirkungsvollsten, wenn sie unangenehme Fragen aufwerfen, wachrütteln und den Zuschauer zum kritischen Reflektieren auffordern. „Aggregat“ ist ein solcher Film. Unkommentiert reiht er verschiedene Szenen aus dem aktuellen politischen und medialen Geschehen in Deutschland aneinander und lässt so eine facettenreiche Collage aus Beobachtungen und Momentaufnahmen entstehen. Ein ebenso herausforderndes wie lehrreiches Werk.

Webseite: www.zorrofilm.de

Deutschland 2018
Regie: Marie Wilke
Drehbuch: Marie Wilke
Länge: 92 Minuten
Kinostart: 29. November 2018
Verleih: Zorro Film

FILMKRITIK:

Wie manifestiert sich „Demokratie“ im öffentlichen Diskurs? Und wie kommunizieren wir eigentlich miteinander über unser politisches System? Diese Fragen sind der Aufhänger für Marie Wilkes Collagen-artige Doku, für die sie Bilder aus dem politischen Alltag der Bundesrepublik zusammentrug. Sie begleitet Touristen bei Führungen durch den Reichstag, besucht Workshops von SPD-Politikern ebenso wie Fernseh- und Zeitungsredaktionen, ist bei simulierten Abstimmungen über ein Gesetz dabei und fängt die Meinung des Volkes bei Demonstrationen ein. Auf den Demos geht es unter anderem um die Themen Flüchtlinge und Einwanderungsgesetze.

Wilkes vierte Doku feierte im Forum der diesjährigen Berlinale unter dem Thema „Im Reich der Perfektion - und Anderswo“ Premiere. Die Berlinerin studierte „Experimentelle Mediengestaltung“ an der Universität der Künste und arbeitete während ihres Studiums als Filmjournalistin für eine Tageszeitung. Seit Ende der 90er-Jahre realisiert sie eigene Dokumentarfilme und Videoinstallationen. Bundesweit bekannt wurde Wilke durch ihren Film „Staatsdiener“, der von Studenten einer Polizeischule in Sachsen-Anhalt handelt.

Wilke ist mit ihrem Team bei Diskussionen, Konferenzen, Sitzungen und Kundgebungen unterschiedlichster politischer Lager dabei – und bildet so das vielfältige Meinungsspektrum unserer Gesellschaft ab. Einer der großen Pluspunkte dieses nüchtern inszenierten, inhaltlich konzentrierten Films. Außerdem bietet „Aggregat“ all jenen Strömungen und Ansichten eine Plattform. Neue Rechte und Rechtspopulisten kommen ebenso zu Wort wie an Aufklärung interessierte Medienvertreter sowie „ganz normale“ Bürger auf der Straße, die Angst vor Altersarmut oder einer weiteren Spaltung der Gesellschaft haben. Im Infomobil des Bundestags am Standort Dresden etwa beschwert sich ein Bürger über die fehlende Nähe der Politiker zum Volk, ein anderer schimpft auf die vielen Flüchtlinge mit unsicherem Aufenthaltsstatus.

An anderer Stelle befindet sich Wilke inmitten einer skandierenden Menschenmenge. „Macht die Grenzen dicht“ fordern die Teilnehmer einer Pegida-Veranstaltung, während sie die umgebenden Journalisten und Kameraleute anpöbeln. Dann erklärt ein unzufriedener Bürger in einer Diskussionsrunde mit Lokalpolitikern, was – seiner Ansicht nach – das Problem in Deutschland ist. Sachsen habe die höchste Kinderarmut in Deutschland, meint er. Außerdem seien viele tausend Rentner auf ergänzende Grundsicherung im Alter angewiesen, „obwohl sie 40 Jahre lang gearbeitet haben.“ Und fügt an: „Aber für die Flüchtlinge macht die Politik das Geld locker.“ Und wenig später blickt Wilke einigen TV-Redakteuren des MDR über die Schulter. Sie produzieren den Beitrag „Angriff auf die Demokratie – Die Neue Rechte“.

„Aggregat“  reiht all diese unterschiedlichen Szenen und Aufnahmen fragmentarisch aneinander und verzichtet auf jegliche Off-Kommentierung, Text-Einblendungen oder sonstige Einordnung des Geschehens. Der Film präsentiert und bildet ab, er urteilt nicht. Dieser Ansatz ist für den Zuschauer durchaus herausfordernd, denn: Er nimmt dem Betrachter das Denken nicht ab sondern fordert ihn auf, sich selbst eine Meinung zu bilden. Wilke spricht in diesem Zusammenhang sehr treffend von der „Mündigkeit des Zuschauers“, also vom Vermögen des Menschen zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.

Björn Schneider